Die Zeit steht still in Rom
Kurznachricht an die Provinz – so übertitelt Manfred Schullian, SVP-Kammerabgeordneter, Anwalt und Schriftsteller (Balduin der Kofferfisch, Die Essenz der getrockneten Tomate) auf Facebook seine morgendlichen Betrachtungen eines Tages, der gute Chancen hat, in die politische Geschichte Italiens einzugehen.
die zeit steht still in rom, die luft ist zum schneiden, selbst der frühverkehr scheint sich aus der stadt verzogen zu haben, die morgenstille lastet bleischwer auf den straßen und die sonne taucht die silhouette der stadt nur verstohlen in das goldene licht des herbstes. als ob ein kriegsausbruch zu erwarten wäre, eine neue zeitrechnung beginnen würde, fremde heere die stadt belagerten und der könig im sterben liege ... noch wenige stunden bis zur wohl entscheidenden vertrauensabstimmung im senat und zur gewissheit, ob sie, die mumie, wieder (oder immer noch) das heft in der hand hält, einen rückzieher macht von unsinnigen drohgebärden und der regierung letta das vertrauen des gesamten pdl ausgesprochen wird. dies würde bedeuten, dass sich der pdl nicht spalten würde, dass das vertrauen für letta kein vertrauen wäre, sondern lediglich eine zeitliche verschiebung des letalen attentates, dass das damoklesschwert weiterhin bedrohlich über rom schwebt, dass renzi immer noch hoffnung hegen kann, die mumie würde für ihn den weg frei schaufeln, dass grillo weiterhin seine unsinnigen verwüstungsrituale exerzieren kann ... dass also alles beim alten bleibt.
wenn hingegen nicht, dann ... dann gibt es plötzlich neue formationen, das volk der freiheit (das sich dann nicht mehr so nennen wird) weiß plötzlich, was freiheit bedeutet (oder bedeuten kann), der pd muss zusammen rücken und kann sich interne spielereien nicht mehr leisten ... dann ergießt sich der tiber weiterhin ins meer, aber das gleißen seines wassers, das sich durch rom schlängelt, ist nicht mehr nur das brechen von licht, sondern das aufatmen einer nation, die sich aus der geiselhaft befreit hat ...
die zeit steht still in rom, die luft ist zum schneiden, die menschen hasten durch die straßen und der herbst scheint einem frühling zu ähneln ... selbst die möwen schütten nicht ihre morgendliche klage über die stadt und segeln gebannt über die dächer, unter denen es unheimlich brodelt ...
am 02.10.2013, in rom, wo die lautlosigkeit das schreien sterbender krieger übertönt, 08.52 uhr
Aber Herr Schullian...
Danke für diesen litterarischen licht- und aufklärenden Einblick. Sie haben wirklich Talent.