Gesellschaft | Sozialverhalten

Was würden Sie tun?

Wie verhalten sich Menschen, die ein soziales Fehlverhalten bei anderen beobachten? In der Praxis anders als zu erwarten wäre.
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Foto: Balafoutas/Nikiforakis/Rockenbach

Stellen Sie sich folgende Szene vor: Sie stehen am Bahnhof, warten auf den Zug. Eine junge Frau wirft gleich neben Ihnen einen Kaffeebecher aus Pappe auf den Boden. Wie reagieren Sie? Sprechen Sie die Frau an und weisen Sie auf die Mülleimer, die in unmittelbarer Nähe stehen, hin? Oder bleiben Sie still, wenden sich gar ab? Und was machen Sie, wenn die Frau nicht nur einen Pappbecher sondern gleich einen größeren Sack mit Müll fallen lässt?

Diesen Fragen ist ein internationales Forschungsteam nachgegangen. Darunter auch Loukas Balafoutas vom Institut für Finanzwissenschaft der Universität Innsbruck. “Wir haben dasselbe Szenario mehrfach im Feld durchgespielt”, berichtet Balafoutas. Das Ergebnis haben die Forscher kürzlich im Wissenschaftsjournal Nature Communications veröffentlicht.
Am Hauptbahnhof von Köln ließen die Forscher Schauspielerinnen und Schauspieler einmal einen Kaffeebecher fallen, einmal einen Sack mit Müll – und sahen sich an, wie die Passanten reagierten. Die implizite Annahme der Forscher war, dass die Reaktionen heftiger ausfallen wenn mehr Müll liegenbleibt, die Übertretung also extremer ausfällt. “Dieser Grundsatz ist allgemein verbreitet, angefangen beim biblischen ‘Auge um Auge’ bis hin zur modernen Rechtsphilosophie der gerechten Strafe, und konnte auch in Laborexperimenten nachgewiesen werden”, so die Forscher. Doch bei den Versuchen im Feld hat sich das Prinzip “Je größer die Normverletzung desto heftiger die Reaktion” nicht bestätigt.

Balafoutas erklärt: “Menschliches Zusammenleben funktioniert, weil wir alle uns unabgesprochen an bestimmte soziale Normen halten. Wir stellen uns artig in Warteschlagen, geben Trinkgeld, werfen Müll in dafür vorgesehene Behälter. Das funktioniert, weil wir soziale Strafen befürchten, nicht nur durch Institutionen sondern auch durch Gleichgestellte in Alltagssituationen: Ich werfe meinen Müll auch deshalb in den Eimer, weil ich fürchte, dass mich jemand darauf ansprechen und das für mich peinlich sein könnte.”
Am Kölner Hauptbahnhof stellte sich allerdings heraus: Die Menge an Müll war für die Bestrafung egal, es gab ähnlich viele Reaktionen in beiden Fällen. “Wir folgern daraus, dass es eine bestimmte Bestrafungsgrenze gilt: Je stärker die Normübertretung desto höher auch die Hemmungen, die Person, die die Normen verletzt, darauf anzusprechen”, erläutert Balafoutas.

Im Vorfeld des Experiments hatten die Forscher Befragungen durchgeführt, in denen die Testpersonen angaben, dass der Müllsack am Boden sehr wohl das größere Problem darstelle als der Kaffeebecher. “In der tatsächlichen Praxis greifen Passanten aber nicht häufiger ein, wenn mehr Müll liegen gelassen wird”, so die Beobachtung der Forscher. Sie fragten die Passanten, die nicht eingegriffen hatten, nach den Gründen: “Eine der häufigsten Antworten: Das könnte zu Streit führen.” Besonders jene Menschen, die beim Sack voll Müll nicht eingegriffen haben, hätten sich vor Streit gefürchtet, bestätigen die Forscher. Laut Balafoutas rührt das daher, dass “Menschen, die eine stärkere Normübertretung wagen – eben, indem sie gleich einen ganzen Sack einfach auf den Bahnsteig werfen –, als gefährlicher eingestuft werden und die Passanten halten sich lieber zurück”. Welche Schlüsse zieht das Forscherteam aus ihrem Experiment? “Für uns zeigt das deutlich: Die soziale Selbstregulation kennt Grenzen. Wir weisen einander auf Fehlverhalten hin, solange es sich in einem bestimmten Rahmen bewegt.” Wenn die Übertretung aber extremer ausfalle, versage diese Selbstregulierung “und wir brauchen Behörden, Polizei, Sicherheitspersonal”.