Gesellschaft | Krieg

Kann auf Zerbrochenem etwas blühen?

Hildergard Weger über eine Studienreise nach Bosnien, das Massaker von Srebrenica, die Spurensuche und die Gräben, die bis heute geblieben sind. Eine Reportage.
Sebrenica
Foto: Hildegard Weger
Dragana Vucetić führt uns in eine Halle mit Leichensäcken. Hier, an ihrem Arbeitsplatz in Tuzla, werden die menschlichen Überreste aus dem Genozid von Srebrenica in Regalen gestapelt: Knochen für Knochen analysiert die serbische Anthropologin die Skelettteile, um sie im Auftrag des ICMPs, dem Internationalen Komitee für vermisste Personen, zu identifizieren und zu vervollständigen. Auch ein Vierteljahrhundert später werden noch rund 1.000 Personen vermisst. Immer wieder werden neue Massengräber entdeckt.
Ich befinde mich in Bosnien, wo ich im Rahmen einer vom Südtiroler Amt für Jugendarbeit organisierten und vom Bozner ARCI-Verein betreuten Studienreise nach Denkanstößen für ein Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten suche. Wir besuchen die Schauplätze des Bosnien-Krieges in Srebrenica, Sarajevo und Tuzla und hören die Geschichten von Überlebenden und deren Nachkommen.
 

Spuren des Krieges

 
Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den muslimischen, kroatischen und serbischen Bewohner*innen von Bosnien und Herzegowina dauerten von 1992 bis 95 und fanden im Völkermord von Srebrenica ihren traurigen Höhepunkt: Was früher ein blühender Kurort mit über 30.000 Einwohner*innen war, wird heute in erster Linie mit dem Genozid von 1995 verbunden. Obwohl Srebrenica von der UNO als Schutzzone deklariert worden war, marschierten 1995 serbische Soldaten in der Stadt ein. Viele muslimische Bewohner*innen (Bosniak*innen) suchten daraufhin Schutz in der UN-Basis im an grenzenden Ort Potočari – ein Schutz, der von der internationalen Gemeinschaft zwar versprochen, jedoch nicht gewährt worden war. Im Gegenteil: Die UN-Streitkräfte überließen die Bosniak*innen, die um und in der Basis Zuflucht gesucht hatten, stillschweigend den einmarschierten Soldaten. Mit dem Ziel einer ethnischen Säuberung exekutierten die Soldaten der Republika Srpska, einer serbischen Teilrepublik in Bosnien, und serbische Paramilitärs rund 8.000 Menschen. Die Opfer waren vorwiegend männlich und zwischen 13 und 78 Jahre alt. Indem sie die toten Körper zerstückelten und in verschiedenen Massengräbern verteilten, versuchten die Täter ihre Spuren zu verwischen.
Das Geschehene kann und darf nicht vergessen werden.
 
 
Diese Körper sind jene, die Dragana Vucetić heute im ICMP in Tuzla untersucht, vervollständigt und identifiziert. Die Serbin ist aber nicht die Einzige, die sich in Bosnien an der Aufarbeitung des Geschehenen beteiligt. So erzählt uns auch Zijo Ribić, ein bosnischer Roma, seine Geschichte: Als 7-Jähriger hat er auf einen Schlag seine gesamte Familie verloren; sie wurde vor seinen Augen gefoltert, vergewaltigt und eliminiert, denn auch Angehörige der Roma waren von den ethnischen Säuberungen betroffen. Zijo stellte sich tot und hat überlebt. In Potočari erinnert die Gedenk- und Dokumentationsstätte im ehemaligen Gebäude der Blauhelme mit Gegenständen und Texten, Fotos und Videos an die Ereignisse in Srebrenica. Sie will aufklären, erinnern und ermahnen. Bei unserem Aufenthalt in der Hauptstadt Sarajevo stechen mir die mit Einschusslöchern übersäten Hauswände ins Auge.
Bei unserem Aufenthalt in der Hauptstadt Sarajevo stechen mir die mit Einschusslöchern übersäten Hauswände ins Auge.
Im War Childhood Museum finden sich Erinnerungen und Gegenstände von Menschen, die zu Kriegszeiten in Sarajevo aufgewachsen sind. Sie erzählen vom kleinen Alltagsglück im Krieg wie Freundschaften und Tanzstunden. Aber auch davon, wie Freund*innen und Familienangehörige durch Bombenangriffe starben.
„My mother’s child“, so lautet der Titel von Ajna Jusićs Geschichte neben einem Foto, das sie als Baby mit ihrer Mutter zeigt. Sie wurde in Folge einer Kriegsvergewaltigung geboren. Heute setzt sie sich für die Sichtbarkeit und Rechte der Menschen ein, denen dasselbe Schicksal widerfahren ist - wie sie uns bei einem Treffen schildert.
 

Neue Anfänge wagen

 
Was fühle ich angesichts dieser entsetzlichen Geschehnisse? Trauer, Schmerz, Wut, Entsetzen. Wozu sind wir Menschen fähig? So viele Mütter, Ehefrauen, Töchter, Schwestern, die den unvorstellbar schmerzhaften Verlust von Söhnen, Ehemännern, Vätern und Brüdern erlitten haben. Ganze Familiengenerationen einfach ausgelöscht.
 
 
 
Vor dem Krieg besuchten Menschen unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit die gleiche Schule, arbeiteten zusammen, wohnten Tür an Tür, tranken gemeinsam Kaffee. Jetzt vermitteln Serb*innen und Bosniak*innen in getrennten Schulen unterschiedliche Geschichten. Viele Serb*innen erkennen den Völkermord von Srebrenica bis heute nicht an.
Keine 30 Jahre ist das Kriegsende her, die Wunden sind tief und werden wohl nie ganz heilen.
Keine 30 Jahre ist das Kriegsende her, die Wunden sind tief und werden wohl nie ganz heilen.
Aber es keimt auch etwas Hoffnung in mir: Da gibt es Menschen wie Ajna oder  Zijo, die bereit sind, ihr Schicksal mit der Öffentlichkeit zu teilen. Menschen wie Muhamad, Bekir und Valentina, die sich mit dem Verein „Adopt Srebrenica“ für Erinnerung einsetzen, aber auch für Annäherung und ein neues Miteinander.
Und es gibt Menschen wie jene, die begegnungsfördernde Studienreisen wie diese organisieren oder daran teilnehmen, Geschichten hören und daraus lernen wollen. Das Geschehene kann und darf nicht vergessen werden. Aber jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, auch wenn dieser auf tragischen Ereignissen fußt. Es liegt nicht nur an politischen Verantwortlichen, sondern an jeder und jedem von uns, welchen Zauber wir heraufbeschwören und wie wir Anfänge und Kontinuitäten gestalten.