Gesellschaft | Mobilität

Prognose 2050: Hitzekrater Bozen

Um Städte zukunftstauglich zu machen, braucht es mehr Bäume und weniger Autos. Dass öffentliche Verkehrsmittel gratis werden, sei laut Experten aber noch unrealistisch.
Bozen Talferbrücke
Foto: Suedtirolfoto
  • Die New York Times geht davon aus, dass weltweit in rund 100 Städten öffentliche Verkehrsmittel kostenlos angeboten werden. Nicht nur in Europa, etwa in Tallinn (Estland) oder Erlangen (Deutschland), sondern auch in den USA, beispielsweise in Olympia (Washington) oder in Kansas City (Missouri) kann gratis mit Bus und Bahn gefahren werden. In Italien hat Genua mit Jahresbeginn die U-Bahn für Ansässige gebührenfrei gemacht. 

    „Bozen ist eindeutig ein Hitzekrater in der Landschaft.“ 

    „Wären öffentliche Verkehrsmittel gratis, müsste die öffentliche Hand, also die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Kosten tragen“, erklärt Südtirols Mobilitätslandesrat Daniel Alfreider (SVP). „Die Europäische Kommission sagt, dass die Nutzerinnen und Nutzer von Verkehrsmittel einen Beitrag leisten sollen, auch wenn er klein ist. Heute trägt die Südtiroler Allgemeinheit rund 75 Prozent der Kosten des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV).“ 

  • Straßenbahnnetz in Bozen im Jahr 1910: Es wurde weltweit abgebaut, um die Nachfrage nach Autos zu steigern. Foto: ÖNB/AKON

    Ziel dieser Legislaturperiode sei es laut Regierungsprogramm, ein Jahresticket für den ÖPNV in Südtirol einzuführen. Auch Fahrkarten, die für ein Monat gültig sind, wären denkbar. Die Grüne Landtagsabgeordnete Madeleine Rohrer hatte im Wahlkampf ein Jahresticket von rund 100 Euro gefordert. Über die genaue Höhe des angekündigten Jahrestickets will sich der Mobilitätslandesrat aber nun nicht äußern. Von kostenlosen Öffis scheint man hierzulande also noch weit entfernt. 

    „Es ist grundsätzlich ein schwieriges und sehr polarisiertes Thema. In der aktuellen Situation werden Lösungen, die langfristig eindeutig richtig und gerecht wären, als unmöglich oder einfach zu teuer abgestempelt“, erklärt Philipp Rier, Raum- und Mobilitätsplaner vom LIA Collective in Südtirol. Er unterstützt derzeit Gemeinden bei der Ausarbeitung ihrer Gemeindeentwicklungsprogramme. „Es zeigt sich, dass viele Dörfer sich in den letzten Jahrzehnten nach dem Beispiel US-amerikanischer Vorstädte entwickelt haben.“ 

    Neue Dorfteile seien sehr monofunktional auf der grünen Wiese errichtet worden, jedes Haus habe einen eingezäunten Garten und eine Garage, dafür aber keine angemessene Fuß- und Radwegeverbindung sowie keine nahegelegene Nahversorgung oder Arbeitsmöglichkeiten. „Wir haben in den letzten 70 Jahren jeden Bereich unseres Lebens rund ums Auto aufgebaut und nun tun wir so, als wäre ein Leben ohne Auto unmöglich. Derweil kann man anhand vieler Beispiele eindeutig nachweisen, dass weniger Autos und Verkehr für den Großteil der Bevölkerung mehr Freiheit, mehr Gesundheit und mehr Lebensqualität bedeuten.“

  • Beispiel Bologna

    Doch das System Auto kommt an seine Grenzen. Nicht nur der CO2-Ausstoß durch die Verbrennung von fossilem Krafstoff, sondern auch der hohe Flächenverbrauch mit Fahrspuren und Parkplätzen drängen die Frage auf, wie wir uns in Zukunft fortbewegen wollen. Darüber diskutieren derzeit auch nationale Medien, nachdem Bologna als erste Großstadt Italiens eine allgemeine Geschwindkeitsbegrenzung von 30 Stundenkilometern eingeführt hat. 

    „Angesichts des Stadtverkehrs und der Umweltverschmutzung in der Poebene ist jede Maßnahme, die darauf abzielt, das Übermaß an Autos und Smog zu verringern, zu begrüßen“, erklärt Giovanni Semi, Professor für Umweltsoziologie und Raumplanung an der Universität Turin, gegenüber der italienischen Tageszeitung Repubblica. Er begrüßt deshalb das umstrittene Tempolimit. Was aber fehle, seien ausreichend Anreize für eine stärkere Nutzung des ÖPNV. Er plädiert für hochwertige und kostenlose Öffis. 

    „Wir sind Autofetischisten geworden.“

    Auch Rier vom LIA Collective begrüßt grundsätzliche jede Maßnahme, um „unsere selbstgeschaffene Abhängigkeit vom Auto zu verringern“. Die Stimmung bei den Autofahrerinnen und Autofahrern sei jedoch oft sehr schnell aufgeheizt. „Wenn ich bei Sitzungen mit Bügerinnen und Bürgern zur zukünftigen Entwicklung ihrer Dörfer auch nur mehr Rechte für Personen auf dem Fahrrad fordere, reagieren bestimmte Menschen sehr emotional und erheben ihre Stimmen sofort sehr laut. Dabei übertönen sie die Stimmen vieler, welche weniger laut sind, ältere Menschen, junge Familien, Kinder und Jugendliche“, berichtet der Verkehrsexperte. 

  • Die Flächennutzung einer Straße: Den meisten Platz nehmen motorisierte Verkehrsmittel wie Autos, Lkws und Busse in Anspruch. Foto: Philipp Rier/LIA Collective

    „Nicht nur Personen, die ein Auto nutzen, sollen im öffentlichen Raum Rechte haben, sondern auch Personen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sind. Es braucht eine Gleichberechtigung“, sagt Rier. Vor allem Frauen, Kinder und ältere Personen seien durch die starke Bevorzugung des Autos in der Städteplanung benachteiligt worden. „Auf einer durchschnittlich genutzten Straße in einem urbanen Gebiet wie Bozen nutzen 80 Prozent der Personen nur 20 Prozent der Fläche.“

    Während also die übergroße Mehrheit zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Bus unterwegs ist, nehmen 20 Prozent der Personen mit den Autos die größte Fläche in Anspruch. „99 Prozent der Personen sitzen dabei alleine im Auto. Das Thema ist bis zu einem bestimmten Punkt auch eine Klassenfrage, da nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung vom Autofahren profitiert und der Rest zahlt drauf, außerdem stehen Autos durchschnittlich 23 von 24 Stunden am Tag nur rum“, so Rier. 

  • Historische Entwicklung

    Philipp Rier: „Die Stadt der Zukunft kann nicht lebenswert sein, wenn so viel versiegelte Fläche wie heute für den Straßenverkehr genutzt wird.“ Foto: Helmuth Rier

    Als Städteplaner hat er einen guten historischen Überblick von der jüngsten Entwicklung unserer Städte und Dörfer. Das Auto wurde zum Treiber der Urbanisierung, die auf die Industrialisierung folgte. Aber von Anfang an: Am Beginn der Industrialisierung wurden europäische Städte richtig dreckig, teilweise fast unbewohnbar. 

    Menschen, die sich es leisten konnten, zogen von den Innenstädten raus in die Peripherie und pendelten zum Arbeitsplatz, was meist mit hohen Kosten verbunden war. So entstanden die Metropolregionen in ihrer heutigen Form. Erst später wurden auch Zugverbindungen in diese Vororte ausgebaut. 

    Wo früher noch ganze Stadtteile autonom funktionierten, gibt es heute das Einkaufsviertel, das Wohnviertel und die Industriezone. Dadurch sind wir gezwungen, mehr Zeit damit zu verbringen, von Punkt A nach Punkt B zu gelangen, anstatt soziale Kontakte zu pflegen. „Es ist schön, wenn ich in einem Dorf oder Stadtteil zu Fuß einkaufen, arbeiten und mich erholen gehen kann, zufällig Menschen begegne und es sich eine Gemeinschaf bildet.“ 

    „In vielen Städten ist immerhin 25 Prozent der Fläche für Autos reserviert.“ 

    Anlass für dringendes Handeln wäre gerade in der Landeshauptstadt gegeben. „Bozen ist aus topographischer und geologischer Sicht eindeutig ein Hitzekrater in der Landschaft. Seit 1960 sind die durchschnittlichen Sommertemperaturen laut dem Klimareport der Eurac aus dem Jahr 2018 bereits um 3 Grad höher. Entweder sie schaffen es, die Menge an Autos in der Stadt zu senken und die Menge an Bäumen und Grünflächen zu erhöhen, oder die Stadt ist im Jahr 2050 während einem Teil des Jahres nicht mehr lebenswert. Darauf würde ich mich trauen zu wetten“, sagt Rier. Denn versiegelte Flächen erhöhen die Temperaturen um mehrere Grad. 

    „Die privilegierte Klasse kann Bozen verlassen, die wohlhabende Schicht hat ihre Sommerfrische am Berg. Die sogenannten unteren Klassen werden die lokale Wirtschaft in der Hitze am Laufen halten müssen, darunter wird ihre Gesundheit leiden und ihre Lebensdauer verkürzt sich.“ 

    Das Straßenbahnsystem von Bozen existiert nicht mehr. Ein solches wäre um ein Vielfaches kostengünstiger für die öffentliche Hand als wie die Instandhaltung und kontinuierliche Überlastung des gesamten Straßennetzes. Doch Straßenbahnnetze wurden weltweit von Automobilfirmen aufgekauft, um sie zu entsorgen. Dadurch stieg die Nachfrage nach Autos. Wer es sich leisten konnte, fing an, mit dem Auto zu pendeln. 

    „Wir sind Autofetischisten geworden. Es braucht einen kulturellen Wandel und Politikerinnen und Politiker, welche sich jetzt trauen die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Das Auto ist ein modernes Phänomen, erst in den letzten Jahrzehnten hat es sich in Südtirol etabliert, das Leben wäre ohne Autos für die Allgemeinheit wieder um einiges lebenswerter“, resümiert der Verkehrsexperte vom LIA Collective. 

    Denn eines stehe fest: „Die Stadt der Zukunft kann nicht lebenswert sein, wenn so viel versiegelte Fläche wie heute für den Straßenverkehr genutzt wird. Sogar ein Haus bietet mit seinem Dach die Möglichkeit, Wasser zu sammeln, Strom zu produzieren oder Grünflächen anzulegen. All das ist auf der Straße nicht möglich. Und in vielen Städten ist immerhin 25 Prozent der Fläche für Autos, ob fahrend oder stehend, reserviert.“