Kultur | Salto Afternoon

Relativitätstheorien

„Relative Calm“ das neue Stück von Bob Wilson und Lucinda Childs, ist in Bozen zu Gast. Dabei ist nicht nur die Ruhe relativ, auch die Bewegung. Zeitlos über Zeit.
Relativ Calm, Pulcinella suite
Foto: Lucie Jansch
Die langen Perioden des Stillstands - „Calm“ kann auch als „Flaute“ und damit Bewegungslosigkeit aufgefasst werden - und die mathematische Exaktheit, Periodizität und ja, dadurch auch Redundanz, welche eine gewisse Langsamkeit bedingte waren im gut gefüllten Stadttheater sicher nicht jedermanns Sache. So kam es, dass mehr als ein Gast der Vorstellung am gestrigen Abend unruhig war (eine Reihe hinter mir wurde jemand zu ruhig und ließ ein leises Schnarchen vernehmen). Schade, da man sich gerade dieser Ruhe, Gelassenheit oder Regungslosigkeit aussetzen sollte, die der Titel versprach, da sie es war, welche verschiedene Bewegungsabläufe an dem fünfgliedrigen Abend in Relation zu einander setzte.
Robert „Bob“ Wilson und Lucinda Childs, Namen, welche international Anerkennung und Interesse auf den Plan rufen, waren, beide jenseits der 80er Marke für den Abend federführend. Zwischen zwei Stücke zeitgenössischer Komponisten - Jon Gibsons „Rise“ und John Adams „Light over water - part 3“ - und zwei Intermezzi von Wilson und dessen Assistenten Aleksander Asparuhov setzte man Stravinskys „Pulcinella Suite“. Auch diese Form - die der doppelten Klammer, kann man, wenn man möchte mathematisch lesen.
 

Rise

 
Zu Gibsons Stück, welches wie ein Atmen auf einem durchgehenden Grundton aufbaute, präsentiert sich die Tanztruppe des MP3 Dance Projekts in weißen Kostümen mit schwarzem Rückenstreifen (Die bemerkenswerten futuristisch bis barocken Kostüme des Abends gestallte  Tiziana Barbaranelli) und fahl geschminkten Gesichtern. Man bewegte sich in Quadratzahl Gruppen, zu zweit, zu viert oder als Gesamtheit zu acht, während die anderen Tänzer:innen den Stillstand aushielten. Kreisförmige Bewegungen mit ausgestreckten Armen griffen in den Raum aber nie an den Körper der Mittänzer:innen, immer wieder Annäherung aufs unendlichste, niemals aber Kontakt. Das Bewegungsvokabular aus welchem Choreographin Lucinda Childs schöpfte war dabei ein balletthaftes, in kaltem, strengen Licht.
An der Rückwand zeichneten sich Linien ab, die zu Beginn diagonal, später horizontal und vertikal verliefen und wie die Körper eine Unmöglichkeit des Kontakts abspielten, wenn auch in gleichbleibender Distanz. Gleich den Tänzern traten sie auf der Musik hin in Erscheinung, welche immer wieder anschwoll und gleich einer Shepard-Skala (die akustische Illusion einer scheinbar unendlich ansteigende Tonleiter) nie abfiel, wohl aber die Richtung wechselte und mit den Parallelen im Hintergrund mit Nuancen neu begann. Vor und über den Tänzern schwebte ein Planet an dünnen Schnüren durch den leeren Raum.
 

Knee Play 1

 
Das erste der beiden Intermezzi Wilsons, der am Abend für Konzept, Licht (mit Cristian Simon), Video (mit Tomek Jeziorski), die Gestaltung des Bühnenraums (mit Flavio Pezzotti) und Regie verantwortlich zeigte, war, wie das zweite mehr Trennschicht denn verbindendes Gewebe. Gemeinsam mit seinem Assistent Asparuhov befand man sich in der Situation eines Diktats. Der Assistent - in Schwarz - gibt einer Zeitlupenstudie eines laufenden Geparden folgend zu melancholischer Geige Worte vor, die ein in Weiß gekleideter Wilson am Schreibtisch zu Papier gibt, erweitert oder verkehrt. Der Text kommt schleppend voran, seine Logik ist zirkulär. Es geht in englischer Sprache um Erwartungen des Publikums, Kleidung, das Publikum aus „City-Folk“ selbst, wie auch um Gott und die Welt. „I want to dance because I feel like it and not because the audience expects me to“. Ein Mäander der Langsamkeit, welcher im Auftakt der Pulcinella Suite seine Fortsetzung fand.
 

Pulcinella Suit

 
Man beginnt im Stillstand, nur das dieser ein Sitzen der Tänzer ist, welche zu dritt in barocken, Geschlechtserwartungen unterlaufenden Kostümen der Projektion sich langsam schließender Kreise folgen. Ihre Bewegung entsteht langsam, allmählich erst als Schulterblick, dann als Zuwendung zum Publikum und schließlich, noch immer verwachsen und mit mindestens einem Kontaktpunkt je Körper, wird es zu einer Exploration der parallel in die Bühnentiefe gehend aufgestellten Bänke.
Mit wachsender Komplexität kommen auch hier Tänzer dazu, der Aufbau des Tanzgeschehens ist scheinbar unabhängig von der aufbrausenden und abebbenden Suite, welche sich, anders als die beiden modernen Stücke über Kontakt und nicht dessen Verweigerung definiert: Mit bis zu Zwölf Tänzern wird Hierarchie wiedergegeben, nach unten oder oben geschlagen, Leiber zu Boden gedrückt, Hebefiguren eingefordert und ausgeführt. Im Zentrum, von einer rot-schwarzen und schwarz-roten Dienerschaft umgeben, die Figur einer androgynen Königin, fast gänzlich in Schwarz. Mehr als die Musik bestimmt sie ein allzu irdisches Stück im kosmischen Rahmen, welcher ihre Macht wohl relativiert.
 

 

Knee Play 2

 
Das zweite war im wesentlichen eine Spiegelung des ersten Intermezzo, mit vertauschten Rollen und Kostümfarben. Hier bekam Wilson, wie im ersten „Knee Play“ das Schlusswort. Er sei nicht Jesus, er sei Nijinsky (begabter und wandlungsfähiger Tänzer der ersten Hälfte des 20. Jh., Anm. d. Red.) proklamiert er mit überlebensgroßem Pathos. Dazwischen ein Röcheln, Stöhnen und Ächzen der Erde, sowie Reflexionen über Erdbeben und deren Ursachen, welche Wilson zeitweise gar bei den Menschen sah, plump und aufgrund junger Ereignisse fehl am Platz. Auf Klang und Bildebene sehen wir Tierherden von Büffeln und Gnus im Aufruhr, ihre Hufe bringen die Erde zum Beben und bis zu einer Pegelkorrektur nach etwa einer Minute die Sound-Anlage des Stadttheaters selbst zum Beben und Schnarren.
 

Light over water

 
John Adams Stück kehrt zum Anfang zurück, zur Unmöglichkeit der Berührung und einem ähnlichen, wenngleich energetischerem Vokabular an Bewegungen und der Möglichkeit kosmologischer Interpretationsmöglichkeiten, des abermals wie ein langes Ein- oder Ausatmen formulierten Klangs. Es zeichnen sich zur Sphärenmusik fahle Kreise und warme Lichtspots ab, Planeten und Sonnen, in Relation wird auch hier die vollkommene Symmetrie, wie im Kosmos, vermieden. Man gipfelt und fühlt, dass man - nach eineinhalb Stunden, die wohl, gerade an den Verbindungsstücken etwas straffer hätten sein können - zu einem Ende gekommen ist.
Es bleiben große Bilder und, trotz kleiner gewollter und ungewollter Unstimmigkeiten, ein Gefühl der Harmonie, des Großen und Ganzen und der Beziehungen und Verbundenheit auch über relativierte Distanzen hinweg.