Kultur | Salto Afternoon

Umwege durchs 20. Jahrhundert

Bozen hat sich als Stadt nicht nach einem lang verfolgten Stadtentwicklungsplan entwickelt, sondern nach vielen. Beim Bolzanism Discovery Walk spürt man dem nach.
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Foto: Bolzanism
Als der erste Bolzanism Discovery Walk in deutscher Sprache am vergangenen Wochenende vom Teatro Cristallo seinen Ausgang nahm, hatte sich die Möglichkeit über die Stadtviertel-Geschichte zu lernen noch nicht herumgesprochen. Ein älterer Herr und ich folgten dem jungen Raum und Stadtplaner durch Zeugnisse der städtebaulichen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Über die ersten Symbolbauten in der Venedigerstraße, welche als Beamtenwohnungen fungierten, über die „Superkondominien“, die bis heute unübersetzt gebliebenen „Semirurali“ bis hin zu Versuchen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, offene Bauflächen mit zumindest annähernd passenden Bauten zu füllen. Das Ergebnis? Ein aus architektonischer Sicht lehrreiches Viertel mit Beispielen sowohl für „Dos“ und „Don’ts“ die heute Anwendungen finden können.
Den vielleicht eindrucksvollsten Berührungspunkt stellen in ihrem damaligen Kontext betrachtet gleich anfangs die Superkondominien am heutigen Matteotti (ehemals Vittorio) Platz dar. Die Anlage mit Wohnraum für rund 6000 Arbeiter in 800 Wohneinheiten besteht aus durch verschiedene Phasen des Rationalismus geprägten Bauzeilen von 88 Metern Länge und 15 Meter Höhe. In jeder Wohnung mit einer ungefähren Größe zwischen 80 und 90 Quadratmetern lebten damals ca. acht Personen. 2022 war laut Astat die durchschnittliche Haushaltsgröße in Südtirol mit 2,3 Einwohnern zu beziffern. Was es bedeutet in einem Zuhause wenig Ausweichmöglichkeiten gegenüber den Menschen, die wir lieben haben ist eine Erfahrung, welche wir alle in den Vorjahren gemacht haben. Das neue Wohnviertel entstand in einem Sumpfgebiet, außer einem Markt bot die Wohngegend fast nichts und der Weg zur Arbeit in der im Entstehen begriffenen Industriezone war, bevor es die Rombrücke gab, umständlich.
Eine teilweise Abkehr von solch industrialisierter Wohnbauweise erfolgte ’37, durch die in Folge der Kolonialverbrechen Italiens in Äthiopien erstmals durch den Völkerbund verhängten Sanktionen gegenüber Italien. Statt den auf fünf Hektar Fläche konzentrierten Superkondominien sprossen die sogenannten Semiruarali aus dem Boden, von welchen heute nur noch wenig zu sehen ist. Starke Sanierungsmaßnahmen und die Verklärung der auf vergleichsweise „üppigen“ 24 Hektar angelegten Wohnidee ließen die fälschliche Zuordnung des Konzepts als eine Art Gartenbausiedlung zu.
Weniger konzeptuell und praktischer gedacht, reichten die Grünflächen für die rund in rund 1000 Wohneinheiten lebenden Personen (ca. 8000) häufig aus ländlichen Gegenden angesiedelten Italiener für eine „Halbautarkie“ und erleichterten vielleicht auch psychologisch den Übergang in eine neue Umgebung. Davon zu sehen war noch eine frühe Ausnahme in dem sonst mit öffentlichen Einrichtungen geizenden Viertel, ein ehemaligen Badehaus, rezent generalsaniert und nun als weiterer Wohnraum genutzt. Bis im Vorjahr wurde hier noch öffentlich, von mehreren Parteien der Superkondminien auf der von der Straße abgewandten Seite, die Wäsche aufgehängt.
 
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Bolzanism: Vielfalt ohne Plan kann zu einem Stadtbild führen, wo das Runde nicht mehr ins Eckige passt und umgekehrt. | Foto: Bolzanism
 
Nach dem Krieg, als es mit dem nationalen Fanfariplan in der Provinz um eine weitere Entwicklung des Statdtviertels ging, waren es 57 und 58 die Architekten Allegri und Veneri, welche im Viertel ihre Handschrift hinterließen. Die Sternarchitektur ihrer Wohnanlagen (aus der Vogelperspektive erinnert der Gebäudegrundriss mehr an einen stilisierten Knochen) reagierte darauf, dass in der Stadt - so der damalige Plan - bis ins Jahr 2000 150.000 Personen leben sollten. Eine Aussicht, welche damals, besonders seitens der Überfremdung fürchtenden deutschsprachigen Bevölkerung auf wenig Gegenliebe stieß, beim Spaziergang durch das Viertel allerdings als interessantes Was-wäre-wenn? im Kopf bleibt. Fast ebenso interessant wie die große Architektur ist, ein aus der Nachkriegszeit stammendes „Flugzeug“ von Veneri, das seinen Platz am Kinderspielplatz findet, wo ein derart militärisch anmutendes Objekt aus heutiger Sicht entschieden fehl am Platz wäre. Hier ist es historisch gewachsen und die Anrainer haben sich wohl bereits daran gewöhnt.
Über die Beiträge von Winkler und Zöggeler, welche uns als „gute Architekten“ aber in Sachen Urbanistik zu jener Zeit noch unerfahren beschrieben werden geht es weiter. Der Eindruck soll sich später gegen Ende der Tour bei einem interessanten, halbrunden Bau Zöggelers bestätigen, der zwar ein interessantes Objekt mit spannender Form geschaffen hat aber keinen Bezug zum umliegenden Ensemble findet. Viel Fläche wird hier vergeben und an einem heißen Tag Ende Juli spüren wir, dass hier Grünanlagen viel Gutes hätten tun können.
 
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Bolzanism: Viel vergebene Fläche bei einer interessanten Konstellation von Kreisen und Halbkreisen. Einige wenige Pflanzen trotzen am Innenhof dem direkten Sonnenlicht. Wir waren bei unserem Besuch allein am Platz. | Bolzanism
 
Doch auch aus heutiger Sicht könne man lernen. Etwa davon, wie Grünraum beim von Carlo Aymonino ausgearbeiteten „Superblock“ (es steht einer der geplanten sieben) umgesetzt wurde. Er orientierte sich an der sozialistischen Bauweise des roten Wiens und wenngleich das generalisierte Wohnen solcher Baublocks aus heutiger Sicht zumindest als psychologisch schwierig zu sehen ist, so wurde doch - oh Wunder - beim Bau der Tiefgaragen darauf geachtet, dass den Bäumen genug Tiefe für ihre Wurzeln bleibt indem man ihnen Erdhügel aufschüttete. Zu oft berichtet unser architektonischer Führer aus Erfahrung, würde bei heutigen Bauaufträgen die Notwendigkeit von Begrünung vergessen und Begrünung im zweiten Moment als „Extra“ angedacht, welches sich an flaches Erdreich anpassen muss. Hier, in dieser hügligen Baumlandschaft ist es angenehm kühl und auch kleine Gärten privater Natur stehen den Bewohnern im Erdgeschoss zur Verfügung.
 
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Bolzanism: Zwischen den Häusern des englischen Viertels begibt man sich Samstagvormittag auf ein heißes Pflaster. | Foto: Bolzanism
 
Weniger dicht aber mit mehr verschenkten Flächen (für in Form von breiten Gehwegen versiegelten Flächen), das sogenannte „Englische Viertel“ des Londoner Studios Darbourne & Darke, welches von außen durch auf drei Etagen angebotene Begrünungselemente (von der Tanne bis zur Palme) punktet, rückwärtig aber wieder nur eine abgeschlossene Fläche bietet, die kaum atmet. War hier der Anteil des gemeinschaftlich genutzten Flächenanteils mit 50 Prozent auch höher, so merkt man weniger davon als bei den 40 Prozent, die der Superblock unter Bewohnern aufteilt.
Südtiroler Architekten, so unser Führer, seien wunderbar im Bauen von attraktiven Objekten, vom Ensemble verstünden sie nichts. Das „Ensemble“ auf welches wir auf unserem Slalom von Teatro Cristallo bis zum Bolzanism Museum gesehen haben ist auch mit Nostalgie verbunden, zeigt uns aber auch, dass es in manchen Dingen besser wäre, einen Plan zu haben.