Kultur | Salto Gespräch

„Gemeinsame Sprache mehr Ideal“

Jurij Andruchowytsch über „Radio Nacht“, das Schriftsteller Sein, Autoren als Politik-Kommentatoren, die Ukraine, sowie die Tätigkeit als Musiker, Übersetzer und Lyriker.
Jurij Andruchowytsch
Foto: Privat
Kurz bevor seine dreiwöchige Reise ihn aus Südtirol fortführt, nahm sich Jurij Andruchowytsch Donnerstag Vormittag eine knappe halbe Stimme für meine Fragen Zeit. Obwohl wir den ersten Herbsttag hatten, traf ich den Autor in seiner Unterkunft, der Villa Arnika, augenscheinlich entspannt in T-Shirt und Dreiviertel-Hose an.
 
Salto.bz: Herr Andruchowytsch, ich möchte das Statement des Senders Radio Nacht zitieren: „Dies ist Radio für alle, die / am Limit sind / in einer Sackgasse stecken / nichts mehr vor sich sehen / nachts nicht schlafen können / nachts nicht schlafen wollen / überhaupt nie schlafen / nicht schlafen und nachdenken / unbeweglich daliegen mit offenen Augen“ Es liest sich wie eine Beschreibung von Depression. Depression ist etwas, das die Menschen entsolidarisiert. Dennoch wird im Roman durch den Sender eine globale Gemeinschaft aufgebaut. Wie wichtig ist es, dass wir uns in diesen Zeiten nicht entsolidarisieren?
 
Jurij Andruchowytsch: Das ist für die Menschheit immer wichtig, wir sind doch soziale Wesen. Die Menschen brauchen Solidarität. Was den Anfang meines Romans betrifft, das riecht wahrscheinlich nach einiger Depression, aber eigentlich geht es nicht um depressive Symptome. Der Protagonist will die ganze Nacht über etwas sagen, erzählen. Er braucht diese Kommunikation, diese Zuhörer und er braucht Kontakte, auch wenn diese Kontakte virtuell sind. Er hat etwas zu sagen und das ist meiner Meinung nach ein klares Zeichen der Hoffnung und der Solidarität, trotz des Inhalts, der so lautet, wie sie zitiert haben. In der Tat ist es aber nicht so hoffnungslos und was sich weiter im Roman entwickelt, die verschiedenen Linien denen die Handlung folgt, das gibt andere Perspektiven wieder.
 
Würden Sie „Radio Nacht“ als einen europäischen Roman bezeichnen? Mit den verschiedenen Reisestationen und dem gewählten Cover - einem gelben Kreis auf blauem Grund - wirkt es so.
 
Es ist ein geographischer Roman und zusätzlich dazu, auch ein „akustischer Roman“, was die Bezeichnung eines Bekannten ist; Das war der Kiewer Philosoph Wolodymyr Jermolenko, der zu den ersten Rezensenten zählte. Aber es ist ein geographischer Roman und in einem gewissen Sinn auch ein Europäischer Roman, denn es geht nicht nur um diese ununterbrochene Flucht, die zu einer Europareise wird. Es geht dabei in die verschiedensten Regionen Europas und dort in Städte mit fiktiven und realen Namen. Es werden dort allgemein europäische Thematiken ausgehandelt: Es wird über kulturelle Konflikte, in Bezug auf Flüchtlinge gesprochen, die von außerhalb Europas kommen, über den Klimawandel und die mit diesem verbundenen Waldbrände auf dem ganzen Kontinent, sowie die Neue Ethik und die Toleranz-Kultur. Das wird alles, teils auch ironisch, thematisiert.
 
Vor dem eigentlichen Text findet sich die Notiz: „In Absprache mit dem Autor wurden geringfügige Änderungen am Original vorgenommen.“…
 
Auch für mich eine Überraschung! Das hatte ich bislang nicht gesehen, aber es hat mir gestern jemand gezeigt. Ich kann nur vermuten, dass das eine unwesentliche, vielleicht juridisch wesentliche Notiz ist, die auf eine neue Regulierung reagiert. Für den Fall, dass wenn eine Passage anders formuliert wurde, diese Notiz dort steht. Aber ich denke nicht, dass es dabei um Wesentliches geht.
 
Eigentlich, wenn wir schon „Krise“ sagen wollen, dann ist es eine Russlandkrise.
 
Seit Beginn der Ukraine Krise passiert es um einiges häufiger, dass Ukrainische Schriftsteller und Intellektuelle gebeten werden zu politischen Themen Stellung zu beziehen. Hat sich dadurch für Sie, der nicht erst seit einem halben Jahr politisch ist, etwas geändert?
 
Zuerst einmal bin ich ein Gegner des Begriffs „Ukraine Krise“, er ist ein Ersatz für viel schlimmere Begriffe. Es handelt sich um eine Russische Aggression und einen vollmaßstäblichen Krieg, eine Invasion mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn wir „Ukraine Krise“ sagen, dann verstecken wir diese Wahrheit, wir hören das um. Eigentlich, wenn wir schon „Krise“ sagen wollen, dann ist es eine Russlandkrise.
Zu ihrer Frage zurück: Ich habe mich seit Anfang der 90er ab und an politisch geäußert. Damals war eine Zeit anderer Medien: Es ging um Print-Zeitungen und das war nicht so dynamisch wie es die Kommunikationsmöglichkeiten heute sind. Jetzt, da bei uns die Mehrheit der bedeutenden Medien im Internet ist, kann jede Minute veröffentlicht werden. Die Präsenz meiner Schriftsteller-Kollegen in der Blogosphäre ist immens - vor allem auf Facebook, weniger auf Twitter. Ich persönlich habe kein Konto dafür eröffnet.
Was ich persönlich tue, ist eine Kolumne schreiben die einmal wöchentlich, am Freitag, in der Online-Zeitung „Zbruč“ erscheint. Das ist für mich ein guter Rahmen, da ich im Laufe der Woche entscheide, welches Thema ich wähle und natürlich ist seit Ende Februar das Thema immer das selbe: Der Krieg und alles, was um den Krieg herum vorgeht. Natürlich war ich bis jetzt nie an der Front und habe auch nicht als Soldat am Krieg teilgenommen. Ich habe andere Beobachtungen, die mit dem Krieg in Verbindung stehen, etwa die Situation im Hinterland, die ziemlich viel vom Bild des Krieges widerspiegelt. Ich befasse mich auch mit den kulturellen Fragen: Wir befinden uns in einer sehr dramatischen Periode in der die Mehrheit der Ukrainer die Ukrainische Identität vehement von der Russischen abgrenzt. In solchen Momenten in der Geschichte ist es wichtig, diese Fragen zu besprechen, da ist Kultur eines der wichtigsten Themen.
 
 
In diesem Jahr hat man es sich bei den Literaturtagen Lana zur Aufgabe gemacht nach einer gemeinsamen Sprache zum Krieg, wie auch zum Frieden zu finden. Für wie möglich halten Sie es, dass man eine gemeinsame Sprache mit Putin finden kann, der häufig Fakten außer Acht lässt?
 
Die Lüge als Instrument ist eines der Hauptmittel von Putin und seinem System. Man kann sagen, dass das seine wichtigste Waffe ist. Ich denke nicht, dass der Titel der Literaturtage auch Putin mit aufnimmt, das wäre absolut naiv und unmöglich. Es geht um die Kulturschaffenden. Der Krieg ist immer auch eine Zeit in der Konflikte zwischen den Kulturschaffenden ausbrechen. Das kennen wir bereits. In diesem Fall geht es im besonderen um die gemeinsame Sprache von Kulturleuten und Autoren aus der Ukraine und Russland. Auch da gibt es ziemliche weitreichende Missverständnisse. Wir leben in einer Zeit in der eine gemeinsame Sprache mehr Ideal ist, als etwas, das in Wirklichkeit erreichbar wäre.
 
Die Russischen Schriftsteller und Intellektuellen sind mitverantwortlich und sprechen keine lauten, klaren Worte, dass dieser Krieg ein Verbrechen ist.
 
Welche verschiedenen Möglichkeiten gibt es, das dieser Krieg zu einem Ende kommen kann, wenn außer Ihrer Sicht eine Begegnung auf Verhandlungsebene mit Putin unmöglich ist?
 
Wenn wir über die Politik, die Lage als Ganzes sprechen, dann gibt es nur eine Möglichkeit und ich bin sicher, dass es dazu kommt. Diese bedeutet die Niederlage Russlands in diesem Krieg, den Ukrainische Sieg, dann wird auch das Regime in Russland gefallen sein. Das liegt an dessen Ordnung: Zuerst ziehen sich die Russen aus der Ukraine zurück und dann kommt eine Form von Aufstand, Protest oder eine Revolution in Russland. Die Russen sind so, dass sie jeden Herrscher lieben, solange er erfolgreich ist. Wenn der Herrscher verliert, wird er gestürzt.
Wenn wir über die Szene der Kulturschaffenden sprechen, dann müssen die russischen kulturellen Elite einfach sehr, sehr tief alles bedauern, was ihr Land macht. Sie müssen auch endlich ihre Verantwortlichkeit erkennen: Sie bemühen sich neutral zu bleiben und nach Berlin zu emigrieren und betonen, dass das nicht ihre Sache, nicht ihr Krieg sei. Die Russischen Schriftsteller und Intellektuellen sind mitverantwortlich und sprechen keine lauten, klaren Worte, dass dieser Krieg ein Verbrechen ist.
 
Sie sind auch durch eine umfangreiche Tätigkeit als Übersetzer um Verständigung und Verständnis bemüht. Wie kamen Sie dazu?
 
Das habe ich einfach aus meiner Liebe zu manchen Texten heraus gemacht, dann wenn der Autor mir nahe ist und mich anzieht in dem Sinne, dass ich seine Texte in meiner Sprache interpretieren muss. Wenn ich die Übersetzung als eine sprachliche, stilistische Aufgabe empfinde, dann mache ich das. Als Übersetzer bin ich kein „echter“ Übersetzer, der daran tagtäglich arbeitet. Ich bin eher der Schriftsteller, der mit der Übersetzung seine eigene schriftstellerische Arbeit ergänzt. Diese übersetzerischen Momente in meinem Schaffen sind Momente in denen ich zwischen meinen eigenen Werken etwas mache, was ein Teil von meinem Ich ist.
 
Das ist eine unsichtbare Arbeit, wobei auch das Wort Arbeit hier schlecht passt. Es ist Fantasie, ein Zustand, in dem man sich diese künftige Welt vorstellt.
 
Als es  bei der Lesung um ihr nächstes Roman-Projekt ging, war eine interessante Formulierung, dass Sie sich wieder als Schriftsteller fühlen. Ist das für Sie etwas, das Sie nur von sich selbst behaupten können, wenn Sie aktiv schreiben, oder können Sie aus der Vergangenheit schöpfen?
 
Ich kann das nur so beschreiben: Ich bin nicht immer Schriftsteller. Es gibt Zeiten in denen ich weder Begeisterung, noch Zeit dafür habe und mit anderen Sachen beschäftigt bin. Jetzt bin ich für drei Wochen unterwegs und gerade in der ersten Woche dieser langen Reise. Die Gedanken kommen wieder und wieder, ich denke ständig über die Dinge nach, die ich in meinem neuen Buch haben will und mache kleine Notizen. Das entspricht weniger dem klassischen Bild eines Schriftstellers vor einem Schreibtisch, es ist mehr eine Befindlichkeit. Ich befinde mich jetzt in einer Zeit in der ich wieder Schriftsteller bin, weil ich wieder über meine Figuren nachdenke, deren Namen und die Motive, die ich gerne beschreiben würde. Das ist eine unsichtbare Arbeit, wobei auch das Wort Arbeit hier schlecht passt. Es ist Fantasie, ein Zustand, in dem man sich diese künftige Welt vorstellt.
 
 
Sie werden „Radio Nacht“ am Sonntag nächster Woche in der Elbphilharmonie mit Ihrer Band Karbido auch als ein Musikprojekt umsetzen. Wie geht das mit Ihrem selbstauferlegten Tabu keine Musik zu hören zusammen?
 
Das geht, weil das eine Import-Export-Variante, etwas im Ausland ist. Nein, ein Konzert in Hamburg zu spielen ist jetzt sehr wichtig, in dem Sinne, dass wir sozusagen die heutige Stimmung in der Ukraine wiedergeben, wenn auch meine befreundeten Mit-Musiker Polen sind. Dass dieses Projekt international, oder zumindest binational ist, ist wichtig um dem Publikum zu zeigen, dass der Krieg unsere Zusammenarbeit nicht gebrochen hat. Wir haben auch Manches in unserem Programm erneuert: Wir spielen mit Kriegsvideos. Ich habe mir die Musik nicht verboten, es geht um das Vergnügen, das ist wie Fasten in einer schwierigen Zeit, auf gewohnte Sachen etwas zu verzichten. Mein Ritual etwa, dass ich immer mit Musik schrieb. Jetzt schreibe ich in Stille, aber das wird nicht ewig dauern, hoffe ich.
 
Wie wollen Sie das Fasten brechen?
 
Alles, was ich bei mir habe, meine gesamte Sammlung an Vinyl, werde ich hören. Eine Platte nach der anderen, 24 Stunden, 7 Tage. So ungefähr, mit einer Sound-Explosion.
 
Es sieht nicht so aus, als würden ausländische Gäste zum Begräbnis von Gorbatschow einreisen dürfen. Wie sehen Sie diese Geste Russlands?
 
Diese Familie ist für mich absolut unwichtig. Wieso sollte ich zu seinem Begräbnis wollen? Das ist eine komische Figur, der Politiker, der die besten Zeiten seines Lebens in seinem tiefen Alter hatte. Er hat sich endlich als jemand gefunden, der für Pizza Werbung macht. Gorbatschow war in seinen letzten Jahren eine Figur aus der russischen Fernsehwerbung für eine bestimmte Pizzakette. Ich finde, das ist der ganze Gorbatschow.
 
 
Für den Satz „Es ist kriminiell, nach dem 30. Lebensjahr noch Gedichte zu schreiben“, lässt sich online keine Quelle finden, er wird Ihnen aber mehrfach zugeschrieben. Haben Sie das gesagt und wenn ja, ist es weiterhin ihre Meinung?
 
Das war ein Scherz von mir, als absolut junger Dichter, mit 22, 23 Jahren. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?
 
29.
 
Bitte, genau an der Schwelle. Ich weiß nicht, ob das auch Ihre Erfahrung war, aber wenn man  in etwa 22 ist, dann denkt man, dass 30 Jahre irgendwo ganz, ganz fern sind und dass es noch sehr lange dauert bis dahin. So war ich auch und sagte, ich höre mit 30 mit den Gedichten auf, weil das etwas Kurioses ist. Ich habe nie kriminell gesagt, ich habe „lächerlich“ gesagt, oder so ähnlich, „kurios“ vielleicht. Mit 30 Jahren ist der Mensch schon alt, sagte ich mir. Poesie, das bedeutet etwas Junges. Poesie ist ewige Jugend und Poesie ist immer eine Einführung, erste Berührungen; So dachte ich damals. Aber das hat sich später geändert und dann, mit 39 Jahren, habe ich wieder einen Gedichtband geschrieben, also nehmen Sie das bitte nicht so ernst.