Chronik | Anschlag in Wien

“Dann hörte ich die Schüsse”

Als Student in Wien war Alex* am Abend des Anschlags in der Innenstadt unterwegs. “Man realisiert das alles nicht”, sagt er am Tag danach.
Kranzniederlegung Wien
Foto: Parlamentsdirektion/Michael Buchner

“Zuerst hat niemand recht realisiert, was da passiert. Aber dann schrie einer: ‘Da wird geschossen!’”Alex* gehört zu jenen, die den letzten Abend vor dem einmonatigen Lockdown in Österreich noch einmal unbeschwert verbringen wollen. Am Montag, in der Wiener Innenstadt. Keiner ahnt den bewaffneten Mann, der in der Seitenstettengasse das Feuer eröffnen, vier Menschen töten, weitere 22 verletzen und schließlich um 20.09 Uhr von der Polizei erschossen werden wird – nur neun Minuten nachdem der erste Notruf eingegangen ist. Zur selben Zeit, gegen 20 Uhr, ist Alex auf dem Weg zum Schwedenplatz. An dem wichtigen Verkehrsknotenpunkt unweit der Seitenstettengasse befinden sich neben den Fahrspuren mehrere Straßenbahnhaltestellen und eine U-Bahnhaltestelle für die Linien U1 und U4.

Alex ist ein junger Südtiroler und wie viele andere zum Studieren in Wien. Am Allerseelentag geht er mit zwei Kollegen in ein Lokal der Innenstadt, wo sie zu Abend essen. Schließlich wird das ab Dienstag aufgrund der neu in Kraft tretenden Corona-Maßnahmen nicht mehr möglich sein. “Nach dem Essen sind wir Richtung Schwedenplatz spaziert”, berichtet Alex. Plötzlich habe er Menschen rennen sehen, “dann hörte ich die Schüsse” bzw. Knallgeräusche, die er nicht sofort einordnen kann. Offensichtlich geht es anderen Passanten genauso. Einige Momente lang herrscht Verwirrung. “Erst, als ein Mann auf dem Platz schrie ‘Da wird geschossen!’, sind alle gleichzeitig weggelaufen”, sagt Alex. Er erinnert sich an Schüsse aus einem Maschinengewehr, dann aus einer Pistole. Auch an Polizeisirenen.

Alex und seine Begleiter ergreifen die Flucht: “Wir wollten nur weg von den Leuten.” Sie gelangen über den Donaukanal vom 1. in den 2. Gemeindebezirk. Am anderen Kanalufer beginnt indes der Großeinsatz von Polizei und Rettung, “schon nach wenigen Minuten war alles voller Einsatzkräfte”, schildert Alex. Entlang des Franz-Josef-Kais staut es immer mehr. Der Südtiroler Student und seine beiden Kollegen wohnen in einer gemeinsamen WG, allerdings in einem anderen Bezirk. Zunächst wollen sie ein Taxi rufen, um nach Hause zu kommen. “Aber wir haben uns gedacht, die Taxis werden unter diesen Umständen wohl nicht fahren. Also sind wir zu Fuß heimgegangen.” Immer wieder treffen sie auf Polizeisperren. Die Lage ist angespannt. Noch ist völlig unklar, ob es mehrere Täter gibt, auch von zwei Geiselnahmen ist die Rede. Die stellen sich später als Fehlalarm heraus. “Das Problem war, dass niemand wusste, was gerade geschah”, meint Alex.

Daheim angekommen, informiert er gleich Familie und Freunde, dass es ihm gut geht. Erst am Tag nach dem Anschlag wird bekannt, dass es sich bei dem einen Täter, den die Polizei erschossen hat, um einen 20-jährigen IS-Sympathisanten handelt, der den Behörden bereits bekannt war. Im April 2019 wurde er zu 22 Monaten Haft verurteilt. Wegen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung – er hatte versucht, nach Syrien auszureisen, um sich dort dem IS anzuschließen. Im Dezember 2019 wurde er vorzeitig bedingt entlassen und stand seither nicht mehr unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Grund dafür war laut dem österreichischen Innenminister Karl Nehammer, dass der junge Mann das Deradikalisierungsprogramm getäuscht habe. Man habe sein Gefährdungspotenzial unterschätzt.

 

“Man realisiert das alles nicht”, sagt Alex noch am Dienstag Nachmittag zu salto.bz. Nie habe er damit gerechnet, in Wien einen Anschlag mitzuerleben. Doch auch wenn er nur wenige Meter von der Schießerei entfernt war, fühle er sich jetzt nicht unsicher und werde auch in Wien bleiben. “Heute waren schon wieder Menschen auf den Straßen unterwegs, allerdings weniger als an anderen Tagen”, hat der junge Südtiroler beobachtet. “Aber die Stimmung ist extrem gedrückt.”

 

Reaktionen in Südtirol


Diese Empfindung kommt auch in einer Stellungnahme der Südtiroler HochschülerInnenschaft sh.asus zum Ausdruck: “Dass die weltoffene Bundeshauptstadt, Studienort von zahlreichen Südtiroler*innen, Schauplatz eines so niederträchtigen Angriffs auf die freie, demokratische Gesellschaft würde, ist kaum zu fassen. Die Südtiroler HochschülerInnenschaft wünscht den Angehörigen der Opfer Kraft und Mut und allen Einwohner:innen Wiens und Österreichs Zuversicht.” Zugleich warnt man bei der sh.asus vor einem Aufflammen islamfeindlicher Positionen oder gar Aktionen: “Die Verantwortlichen in der Politik sind nun gefordert, bestimmt und besonnen vorzugehen, die volle Härte des schützenden Rechtsstaats mit der klaren Ablehnung von identitätspolitischer Instrumentalisierung zu verbinden. Wer sich zur demokratischen Zivilisation bekennt, lässt sich nicht spalten!”

Ähnlich sehen es die Kammerabgeordnete Renate Gebhard und Senator Dieter Steger, die am Dienstag im Parlament in Rom der österreichischen Bevölkerung und den österreichischen Institutionen Anteilnahme und Solidarität aussprachen: “Was in Wien geschehen ist, passierte nur wenige Tage nach den Anschlägen in Frankreich. Es spiegelt die Strategie des islamistischen Fundamentalismus wider, zu einer Zeit, in der ganz Europa durch die Corona-Krise gefordert ist, Verwüstung und Angst zu verbreiten. Europa muss jetzt geeint reagieren und sein Engagement gegen alle Formen von Fundamentalismus und Intoleranz neu beleben und verstärken.”

In Bozen gedachte Landeshauptmann Arno Kompatscher mit einer Schweigeminute am Dienstag Mittag der Opfer von Wien: “Angriffe auf unsere Freiheit und Offenheit, denen unschuldige Menschen zum Opfer fallen, sind zutiefst verwerflich und durch nichts zu rechtfertigen. Wir verurteilen jegliche Form von Terrorismus und Gewalt. In solch traurigen Momenten dürfen wir uns nicht verunsichern lassen, sondern müssen stark sein. Den Angehörigen und Opfern gilt unser aufrichtiges Mitgefühl, den Wienerinnen und Wienern unsere Solidarität.”