Kultur | Nachruf

Vermittler zwischen den Sprachwelten

Die Schrifstellerin Sabine Gruber über Luigi Reitani (1959-2021), einem der wichtigsten Vermittler zwischen der deutsch- und italienischsprachigen Kultur.
Reitani
Foto: Freie Universität Berlin/Reiner Fresse
Es war noch in vordigitalen Zeiten, als ich in der Brixner Cusanus-Akademie einen jungen italienischen Germanisten über den Dichter Norbert C. Kaser sprechen hörte. Luigi Reitanis philologische Genauigkeit und seine Kenntnis der politischen und kulturellen Eigenheiten Südtirols überraschten mich umso mehr, als ich erfahren hatte, daß er aus Foggia/Apulien stammte. Es war der Augenblick, als wir uns anfreundeten, seither verband uns eine über Jahrzehnte währende Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung.
Als ich von gemeinsamen Freunden benachrichtigt wurde, daß Luigi sich mit Covid infiziert hatte und in einem Berliner Krankenhaus auf der Intensivstation lag, griff ich, in dem verzweifelten Versuch, ihm in irgendeiner Form nahe zu sein, nach den Gedichten Hölderlins und las die Patmos-Hymne mit den berühmt gewordenen Zeilen „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Das Rettende, sollte ich wenige Tage später erfahren, war nicht gewachsen.
Ich verneige mich vor diesem so kenntnisreichen, belesenen, bescheidenen und überaus freundlichen Literaturmenschen.
Mit Luigi Reitani hat die Literaturwelt nicht nur einen der bedeutendsten italienischen Germanisten verloren, er war auch einer der wichtigsten Vermittler zwischen der deutschsprachigen und italienischsprachigen Kultur. Als einer der wenigen italienischen Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker setzte er sich für die in der italienischen Öffentlichkeit bis heute kaum wahrgenommene transnationale und transkulturelle Südtiroler Literatur ein, deren Klassifizierungsproblematik ihm bewußt war. Die alten stereotypen, nationalen Einordnungen und Zuschreibungen funktionieren gerade bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen aus Grenzlandregionen nur bedingt. Da Luigi Reitani selbst in beiden Welten zuhause war, gelang es ihm wie kaum einem anderen, in bikulturellen literarischen Texten Anspielungen und filmische oder formalästhetische Verweise zu entdecken und zu beschreiben, die Rezensenten ohne diesen italienisch-deutschen Blick zwangsläufig verborgen bleiben. Für ihn, der zuletzt zwischen Udine und Berlin lebte, war Transmigration ebenso eine produktive Daseinsform wie für viele Südtiroler Schriftsteller, deren Identitäten sich gleich auf mehrere Orte beziehen.
 
 
Als Professor für Neuere Deutsche Literatur in Udine mit Gastprofessuren in Österreich und in der Schweiz war ihm neben seiner Hauptbeschäftigung mit Hölderlin vor allem die Südtiroler und die österreichische Literatur eine Herzensangelegenheit geblieben. Er übersetzte und kommentierte oder besprach die Werke von Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Friederike Mayröcker, Arthur Schnitzler, Joseph Zoderer, Gerhard Kofler usw.
 
Es war die Übersetzung von Elfriede Jelineks „Wolken.Heim“, ein mit Hölderlin-Zitaten gespickter Theatertext , welcher Reitani schließlich animiert hatte, Hölderlins Gedichte ins Italienische zu übertragen. 2001 erschien Band I der italienischen Hölderlin-Werke. 19 Jahre später, zum 250. Geburtstag des deutschen Dichters, publizierte Mondadori die Prosa, die Theaterstücke und die Briefe Hölderlins – übertragen und kommentiert von Luigi Reitani. Seine Übersetzungstätigkeit hatte Reitani nur in den Jahren 2008 bis 2013 unterbrochen, da war er assessore alla cultura / Kulturstadtrat von Udine.
Auf die Frage eines Journalisten, ob er die gewaltige Übersetzungsanstrengung – am Ende waren es 4.000 Seiten - nicht bedauere, antwortete Luigi Reitani: „Was gibt es Schöneres als seine eigene kleine Stimme einem wirklich großen Autor zu widmen!“
Im Folio-Verlag ist 2020 Reitanis Buch „Hölderlin übersetzen. Gedanken über einen Dichter auf der Flucht“ erschienen, in dem Reitani in acht Ausätzen über seine Arbeit als Übersetzer nachdenkt, eine Arbeit, in der man ständig Entscheidungen für ein bestimmtes Wort, eine bestimmte Formulierung treffen muß, die man am Ende zu verantworten hat.
Was gibt es Schöneres als seine eigene kleine Stimme einem wirklich großen Autor zu widmen!“
Es ist Reitanis Verdienst, für den „hohen Ton“, der in der Hölderlinschen Originalfassung zuweilen für heutige Ohren befremdlich klingen mag, eine elegante, zeitgemäße italienische Sprache gefunden zu haben, die sich z.B. vom Pathos eines D‘ Annunzio entfernt.
Reitanis Kommentare zu den Texten wiederum sind keine einengenden Interpretationen, sondern öffnen – so seine Intention - Fenster, so daß man Hölderlin nicht in erster Linie als den Griechen unter Deutschen wahrnimmt, sondern als deutschen Zeitgenossen.
An Hölderlin, sagte Reitani, habe ihn dessen Scheitern interessiert, die Fluchtbewegungen. Diese machen in den Augen Reitanis die Modernität Hölderlins aus, ebenso wie Hölderlins vergeblicher Versuch, die Welt als Ganze zu erfassen. Bei Hölderlin kann einen Augenblick lang alles erhellend, sinnhaft sein, im nächsten Moment zerbricht die Welt, es bleiben nur Fragmente, verschiedene Versionen eines Textes übrig.
 
 
Hölderlin selbst war, wie man weiß, nie in Italien, wohl aber seine Figuren Hyperion und Empedokles. Im Tübinger Turm soll Hölderlin angeblich auch italienisch gesprochen haben, und er wünschte mit den Namen Scardanelli, Scarivari, Buonarroti und Rosetti angesprochen zu werden. Reitani erwähnt in einem Aufsatz als mögliche Quellen des italienischen Spracherwerbs Hölderlins Bekanntschaft mit Johann Friedrich LeBret, der als Hofmeister in Venedig tätig gewesen war, mit Winckelmann und dem späteren Papst Clemens XIV., und er findet mögliche Erklärungen, warum sich Hölderlin gerade für diese italienischen Heteronyme entschieden hat. Papst Clemens XIV. zum Beispiel hieß mit bürgerlichem Namen Lorenzo Garganelli, was Scardanelli zum Verwechseln ähnlich klingt. Reitani dazu in seinem unvergleichlichen Humor: „War vielleicht der Protestant Friedrich Hölderlin der erste deutsche Papst? Jedenfalls nicht im Vatikan, sondern im Tübinger Turm. Auch in diesem Fall blieb er freilich von Rom und dessen Palästen fern.“
 
Wir aber werden aufgrund von Luigi Reitanis so überaus wertvoller transkultureller Spracharbeit in diesen literarischen Welten, die er für uns erschlossen hat, weiterreisen.
 
Die Begegnungen mit Luigi in Wien, in Udine, in Pordenone und in Berlin, meist in Begleitung seiner so klugen wie liebenswerten Frau Antonella, haben mein Leben bereichert.
Ich verneige mich vor diesem so kenntnisreichen, belesenen, bescheidenen und überaus freundlichen Literaturmenschen und sage:
Danke.