Gesellschaft | Neuerscheinung
Das Tabu Missbrauch
Foto: Georg Lembergh
„Wir brechen das Schweigen“ heißt die Neuerscheinung bei Raetia, 200 Seiten dick mit großflächigen Fotos in Schwarzweiß und bunten Seiten in sanftem Gelb und Blau. In dem Buch erzählen acht Betroffene von sexuellem Missbrauch als Kinder und Jugendliche in Südtirol. Sie wollen Wege finden, um über ein Tabu zu sprechen. Ein Tabu, das im Leben junger Menschen unweigerlich Spuren hinterlässt, ihnen das Aufwachsen erschwert und ihnen das Vertrauen zu Erwachsenen raubt.
Der Missbrauch war bloß ein kleiner Teil davon, dem ich nicht gestatte, dass er mir alles Weitere zerstört.
Die Autorin ist Veronika Oberbichler, der Fotograf und Initiator des Projekts Georg Lembergh. Das Thema ist kein leichtes und kann durch die Schilderung von sexualisierter Gewalt für Leser:innen belastend und retraumatisierend wirken. Gleichzeitig fehlt es noch an Aufarbeitung und Prävention zu diesem weit verbreiteten Verbrechen.
„Für Minderjährige ist es noch viel schwerer einzuordnen, was da passiert ist. Sie haben keine oder weniger Vorstellung von Sexualität. Es ist für sie ein unangenehmes Eingreifen über ihre Körpergrenzen hinweg“, erklärt Veronika Oberbichler. Die Psychologin und Psychotherapeutin im Bereich Kindes- und Jugendalter sowie Erwachsene hat mit den Betroffenen lange Gespräche geführt, ihnen zugehört und ihre Worte verschriftlicht.
Laut Oberbichler ist sexueller Missbrauch oder sexuelle Gewalt an Minderjährigen jede sexuelle Handlung, die an oder vor Mädchen oder Jungen gegen deren Willen vorgenommen wird oder der sie aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen können.
Die im Buch besprochenen Fälle zeigen die vielen Facetten davon – er findet in der Schule, in der Kirche, in Vereinen, Familien und in Partnerschaften statt. Der Täter oder die Täterin muss in Zeiten von Digitalisierung und sozialen Medien keinen direkten Körperkontakt zu der anderen Person haben und kann selbst minderjährig sein. Deshalb findet Oberbichler es wichtig, dass Mädchen und Jungs sensibilisiert werden, da sie alle sowohl Täter:innen als auch Opfer werden können. Zudem gibt es mitunter mehrere Täter:innen in einem Fall oder der Missbrauch betrifft mehrere Generationen einer Familie.
Sensibilisierung
„Wir müssen als Gesellschaft hellhörig sein und Mädchen und Jungs dafür sensibilisieren“, so die Psychologin. Betroffene stehen vor einer Hürde, wenn sie ihre Erfahrungen mitteilen wollen. „Sie haben mit Benachteiligung und Diskriminierung zu rechnen“, erklärt Oberbichler. Daher überrascht es nicht, dass alle Betroffenen im Buch anonym über ihr Leben berichten. Alle Namen, Orte, Berufe und anderen personenbezogenen Angaben werden verändert wiedergegeben.
Das Buch soll Mut machen, das Geschehene auszusprechen, und zeigt Möglichkeiten der Auseinandersetzung danach auf. „Mir persönlich hilft der Gedanke, dass mein Leben aus vielen Momenten besteht, aus vielen Tagen und Erfahrungen. Der Missbrauch war bloß ein kleiner Teil davon, dem ich nicht gestatte, dass er mir alles Weitere zerstört“, erklärt beispielsweise Elena im Gespräch mit Veronika Oberbichler.
In dem Buch werden neben den Gesprächen zwischen den Betroffenen und der Psychologin auch Fachtexte abgedruckt. Diese wurden von Oberbichler verfasst, um Fragen und Missverständnisse zu klären. Etwa wie man damit umgeht, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein. Oder wie man mit dem Unaussprechlichen lebt, das niemand hören will.
Außerdem macht die Kinder- und Jugendanwältin Daniela Höller in einem Interview im Buch deutlich, dass der Umgang mit sexuellem Missbrauch Zivilcourage erfordert. Missbrauchsfälle können alle Bürger:innen bei Polizei- und Carabinierikommissariaten melden, öffentlich Bedienstete sind sogar zu einer Meldung verpflichtet. Am Ende des Buches werden die aktuellen Anlauf- und Beratungsstellen sowie Adressen von zuständigen Behörden und Therapieeinrichtungen in Südtirol aufgelistet.
Recherche und Daten
Die Idee für das Buch hatte der freischaffende Fotograf und Filmemacher Georg Lembergh, nachdem er von einem Missbrauch in seinem Heimatdorf in Nordtirol erfahren hatte. Er startete einen Aufruf an Betroffene in Südtiroler Medien und es meldeten sich daraufhin 50 Personen aus dem gesamten Land und aus allen Sprachgruppen. Acht davon erzählen ihre Geschichte im Buch.
„Ich war von der Anzahl und Schwere der Missbrauchsfälle schockiert. Von diesen 50 kannte jeder und jede noch mindestens andere drei, vier Betroffene. In den 50er, 60er und 70er Jahren scheint es sehr schlimm gewesen zu sein, vor allem in der Familie, in der Kirche und im sozialen Umfeld“, erklärt Lembergh. Die jüngsten an ihn gemeldeten Fälle liegen fünf bis sechs Jahre zurück.
Wer nach genaueren Daten zu sexuellen Missbrauchsfällen bei Kindern und Jugendlichen in Südtirol fragt, muss vertröstet werden. Um das zu ändern, hat die Provinz Bozen nun eine wissenschaftliche Studie bei der Universität Innsbruck in Auftrag gegeben. Deren Ergebnisse sollen in zwei Jahren veröffentlicht werden. Auch Lembergh selbst widmet sich weiterhin dem Thema, sein Dokumentarfilm zu sexuellem Missbrauch in Tirol und Südtirol wird 2023 erscheinen.
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