Als wär's ein Stück von ihr
Wenn es ihr wirklich leid tut um ein Stück Meran, das verloren geht, dann wechselt sie die Straßenseite, um der Quelle des Ärgernisses nur ja nicht zu nahe zu kommen. Das letzte Beispiel: der Haisrainer unter den oberen Berglauben. Die Gastwirtschaft ist weg, stattdessen ist in das Gebäude – mittlerweile so etwas wie ein Klassiker in Südtirols Altstädten - ein Unterwäscheladen eingezogen. “Seit dem Umbau war ich da nie mehr drinnen, ja nicht einmal hinschauen kann ich”, schimpft Lisi Ortner. “Ich mag gar nicht daran denken, was aus der gotischen Stube, aus dem Riemenboden, aus der alten Getreidehandlung im hinteren Gebäudeteil geworden ist.” Dass der Haisrainer nicht mehr ist, findet die rund 1,50 Meter kleine Frau, die mit ihrer Riesenladung Temperament mindestens einen Meter Körpergröße wettmacht, “einfach unverzeihlich.”
Grund zur Aufregung hat die 70-jährige Geschäftsfrau des öfteren, denn die Meraner Altstadt ändert ständig ihr Gesicht, und nicht immer zum Besseren, wie sie findet. Selbst hütet sie eines der letzten Kleinode der Meraner Lauben: die Drogerie Kikinger unter den oberen Wasserlauben mit der dunklen Nussholz-Fassade. Drogerie ist eigentlich zu wenig gesagt, denn zwei Wände des Ladens sind bis zur Decke mit Kerzen voll gestellt: Taufkerzen, Erstkommunionskerzen, Trauerkerzen, Jubiläumskerzen, Duftkerzen in allen Farben. Wer in Meran eine personalisierte Kerze braucht, landet wohl am ehesten beim Kikinger. Und wird mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit beraten. So wie kürzlich die Klosterfrauen, die eine Kerze für ein Profess-Jubiläum gestalten lassen wollen. Dabei hat die Ladenchefin mit der Kirche nicht viel am Hut. “Eine Christin, ja das bin ich, aber keine Katholikin”, präzisiert sie. Dass sie die Nonnen trotzdem höchst fachmännisch berät, ist für die Kauffrau Ehrensache.
Seit 90 Jahren gibt es den Kikinger im Laubenhaus 165. Lisi Ortner gibt es beim Kikinger seit den 60er Jahren, als sie als Lehrmädchen in das damalige Seifengeschäft eintrat. Erich Ortner, ihr heutiger Mann, war damals ein zwölfjähriger Lausbub. Der Sohn der Chefitäten flitzte in Lederhosen durchs Geschäfts und heckte einen Streich nach dem anderen aus. “Ich war damals 14. Sie können sich vorstellen, wie ich auf den Bub herabgeschaut habe.” Recht bald wurde es der aufgeweckten jungen Frau zu eng in Meran: “Ich konnte es nicht erwarten, die große weite Welt kennen zu lernen.” Über eine Bekannte bekam sie eine Anstellung in einem Kaufhaus in Nagold im Schwarzwald. War das denn nicht auch tiefste Provinz, im Grunde nicht besser als Meran? “Natürlich, aber Nagold war erträglich, weil es dort eine Textilschule von Weltrang gab. Viele junge Leute kamen aus dem Ausland, um sich hier ausbilden zu lassen.” Sie genoss die internationale Atmosphäre, mischte sich unters Volk. Jenen Jahren verdankt sie beispielsweise die Erkenntnis, dass “Norweger so heißblütig wie Sizilianer sind”. Später wechselte sie in eine Nagolder Gaststätte, wo sie mit der Tochter des Besitzers den Tanzkeller schmiss. Wieder gab es viel Trubel, hin und wieder büchsten sie und ihre Kollegin heimlich mit dem Mercedes vom Chef nach Stuttgart aus. Dann war genug, Lisi ging zurück nach Meran und kam im damaligen Friseursalon Atlantik in der Sparkassenstraße unter. Eines Tages stand Erich, inzwischen zum Maschinenschlosser ausgebildet, vor der Tür. “Er fragte, ob ich mit ihm tanzen gehe. Da er im Ruf stand, ein guter Tänzer zu sein, nahm ich die Einladung an.”
Im Grunde wollte die junge Lisi bald wieder weg aus Meran, nach England oder Frankreich. “Sprachkenntnisse hatte ich natürlich keine, doch das hätte mich nicht abgehalten.” Es kam dann aber anders, denn als Kikingers Geschäftsführer in Pension ging, boten Erichs Eltern ihr die Führung des Ladens an. “So wurde ich 'vom Lehrmädchen zur Chefin', wie meine beiden Söhne immer sagen.”
Eigenwillig und ohne große Rücksicht auf Konventionen ging die resolute junge Frau auch das Eheleben an. Geheiratet wurde erst, als der Erstgeborene Johannes bereits auf der Welt war, und dann auch noch standesamtlich. Ersteres war in den frühen 70er-Jahren in Meran “ein Skandal”, Letzteres betrübte vor allem den Vater der Braut, der ein tiefreligiöser Mann war. “Meinem Vater zuliebe haben wir die kirchliche Trauung später auf Schloss Schenna nachgeholt. In welchem Jahr das war, weiß ich gar nicht mehr.” Wen wundert's, denkt man sich, ihr Herz hing doch ganz und gar nicht an dieser Zeremonie. Sie aber schiebt's auf das nachlassende Gedächtnis. “Ich werde alt. Das ist wohl der letzte Abdruck, wenn Sie ein Porträt von mir machen wollen.”
Dass Lisi Ortner Angst hätte aufzufallen, kann man ihr nicht vorwerfen “Scheinheiligkeit mag ich nicht”, erklärt die dreifache Großmutter. Dinge einfach hinnehmen, das fällt ihr schwer – manchmal zum Leidwesen ihres doch eher zurückhaltend wirkenden Ehemannes. Den sprach kürzlich ein Bekannter auf der Straße an: “Deine Frau redet ja wie eine Grüne.” Als ihr das zu Ohren kam, gab sie Erich klare Anweisungen: “Sag ruhig, die Lisi ist eine Grüne!”
Dass die Drogerie Kikinger und die Galerie Kunst Meran gleich nebenan heute in einem wunderbar sanierten Laubenhaus untergebracht sind, ist nicht zuletzt auch Lisi Ortners Liebe zu Qualität und Sinn für Ästhetik zu verdanken. Der alte Ratssaal im ersten Stock, der atemberaubend schöne Lichthof, das Sandsteintor des Gebäudes hatten es ihr angetan. Sie sprach beim damaligen Präsidenten der Sparkasse, Franz Spögler, vor, wandte sich hoffnungsvoll an den früheren Landeskonservator Helmut Stampfer, um zu erreichen, dass das Gebäude unter Schutz gestellt wird. “Jahrelang habe ich ein Auge auf das Sandsteintor gehabt und es gepflegt”, erzählt sie. Mit derselben Liebe spricht die Geschäftsfrau von der alten Seifenfabrik Kikinger in Marling, die inzwischen nicht mehr im Familienbesitz ist, oder vom früheren Kolonialwarengeschäft Verdroß unter den Lauben, das es so wie den Haisrainer nicht mehr gibt. Ihren eigenen Laden hütet sie wie ihren Augapfel. Wer das Geschäft durch die alte Holzladentür betritt, den holen die Farben, Formen und Düfte der Vergangenheit ein. Die dunklen Regale, der hölzerne Ladentisch und die Vitrinen sind gespickt mit einem unendlich anmutenden Seifensortiment, Haarbürsten, Haarklammern, Essenzen, Bettflaschen, Duftsäckchen, allen möglichen Hausmitteln und eben Kerzen.
Bei aller Liebe zu Vergangenem bleibt der Blick für die Gegenwart trotzdem klar: Als sich letztes Jahr die Lage der Flüchtlinge am Brenner zuspitzte, plante Lisi Ortner eine schweigende Demonstration vor Südtirols Klöstern, um auf die Kirche Druck auszuüben, sie solle die Migranten in ihren leer stehenden Gemäuern unterbringen. Daraus wurde aber nichts, denn eine Bekannte überzeugte sie, die Kundgebungen sein zu lassen und stattdessen im Kloster Lanegg in Lana persönlich vorzusprechen. Das Treffen ging ordentlich in die Hosen. Die Ordensfrauen lehnten den Vorschlag der beiden Aktivistinnen ohne große Umschweife ab. “Wir wurden freundlich empfangen, aber als es zur Sache ging, wurde klar, dass die Klosterfrauen zu so einem Schritt nicht bereit waren. Als ich fragte, wie sie denn sonst den Flüchtlingen helfen könnten, bekam ich zur Antwort, man werde für die Menschen beten. Das wird ihnen wenig nützen, habe ich mir gedacht.”