Kultur | Grundsatzdebatte auf Schloss Prösels

Was kann, soll, muss Kultur?

Während rundum Musikfestivals und Theateraufführungen den Kultursommer einläuten, stellt das Südtiroler Bildungszentrum die Grundsatzfrage „Was kann, soll muss Kultur?“. Otto Saurers und Oliver Scheytts Thesen zu Kulturschaffen und Kulturauftrag im Spannungsfeld der Identitätsverortung und –erneuerung.
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Foto: FdI

Kultur als Reich der Entfaltung und des Dürfens, was das individuelle Schaffen angeht, und Kultur als Instrument der Verortung, Abgrenzung, Entwicklung und Verständigung, wenn die Gemeinschaft in den Blickpunkt genommen wird: Dazu wurden auf der Tagung des Südtiroler Bildungszentrums am 13. Juli auf Schloss Prösels einige beachtenswerte Thesen formuliert. „Was kann, soll, muss Kultur?“, lautete das Thema, zu dem Oliver Scheytt, Schattenminister im Kompetenzteam von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück und Professor für Kulturpolitik in Hamburg, das Hauptreferat hielt. Die Funktion der Kultur als Instrument der individuellen Verwirklichung und sozialen Kommunikation unterstrich eingangs der Präsident des Südtiroler Bildungszentrums Otto Saurer. Er bezeichnete die Kultur als Motor für Kreativität und als Standort- und Imagefaktor, dessen identitätsmäßige Konfiguration für regionale Gemeinschaften in Zukunft noch eine stärkere Bedeutung erhalten werde. Die nationalstaatlichen Gemeinschaften seien jedoch nicht die „Endpunkte der Entwicklung“.

Oliver Scheytt knüpfte an diese Sichtweise an, indem er auf die Definition der UNESCO verwies, laut der Kultur die Gesamtheit der besonderen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte umfasst, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe als Gemeinschaft kennzeichnen. Damit wird die stabilisierende Funktion angesprochen, die die Kultur erfüllt. Religion und ethnische Zugehörigkeit weisen diesbezüglich eine prägende Funktion sowohl für Menschen als auch für ästhetische Prozesse auf. Doch Kultur kennzeichnen auch dynamische Elemente, wie Scheytt ausführte, nämlich jene Aktivitäten und Prozesse, die einer Gemeinschaft helfen, „über sich selbst nachzudenken“ und sie dazu befähigen, „ihre eigene Begrenztheit zu überschreiten“. Dieser Prozess der Öffnung müsse gefördert werden, auch wenn er jenen Angst machen kann, die sich nur in den Bahnen der Tradition bewegen. Er bringt dann fruchtbare Resultate, wenn Individuum und Gemeinschaft „sich selbst gewiss sind“ und die Bereitschaft zur Konfrontation und zum Austausch aufbringen.

Es ist also unerlässlich, sich selbst zu verorten, um dann Schritte über die Grenzen dieser Positionierung hinaus zu unternehmen. Zu beachten ist zugleich, dass die Konfrontation mit anderen Identitäten und Ausdrucksformen, zumal in einem auf Mobilität und Austausch ausgerichteten Europa, eine konstitutive Rahmenbedingung unseres Daseins darstellt, verstärkt durch Migrationsbewegungen und globale Vernetzungsinstrumente. Wir sind in eine Realität hineingeboren, erklärte Scheytt, in der eine ständige Dynamik zwischen kultureller Bewahrung und Erneuerung im eigenen kulturellen Umfeld genauso zur alltäglichen Erfahrung gehört, wie die Auseinandersetzung mit uns nicht vertrauten Prägungen, die in anderen Kulturräumen identitätsbegründend sind. Das gemeinsame Europa mit seiner vielfältigen Vernetzung ist ein Erfahrungs- und Experimentierraum für das Zusammenleben und die Kooperation unterschiedlicher kultureller und sprachlicher Identitäten. Scheytt interpretiert den Friedensprozess nach dem zweiten Weltkrieg und, im Zuge dessen, die Reduzierung der Bedeutung der Nationalstaaten als die Besinnung darauf, dass „es nicht viel Sinn macht, sich wegen unterschiedlicher Sprache und Kultur die Köpfe einzuschlagen“. Die Europäer/innen hätten gelernt, „mit unterschiedlichen Kulturen zu leben“. Mit Musil plädierte Scheytt dafür, „das was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was sein könnte“. Kulturarbeit bedeutet also, bewahrende Identitätspflege und Zukunftsarbeit zu leisten.

Für die Innovation unserer kulturellen Codierungen und die Metakommunikation zwischen den Kulturen brauchen wir Freiräume. Verständigung zwischen den Kulturen gelingt dann, wenn dieser Prozess des Austauschs und der gegenseitigen Annäherung keinen Determinierungen unterliegt. In den interkulturellen Beziehungen wird deshalb häufig von einem sog. „dritten Raum“ gesprochen. Gemeint ist damit nicht nur die Zur-Verfügung-Stellung von Räumlichkeiten, sondern auch die notwendige Kommunikationsinfrastruktur, aber auch die emotionale und intellektuelle Bereitschaft, kreative Spielräume zu gewähren. Kulturpolitiker/innen, so Scheytts Postulat an die Institutionen, müssen Verständnis aufbringen, damit solche Spielräume geschaffen und erhalten werden. Und: „Verständigungsprozesse müssen kommuniziert und finanziert werden“.

Im europäischen Rahmen sieht Scheytt die großen Herausforderungen für das Kulturschaffen und die Kulturpolitik in der Begriffstriade Globalisierung, Ökonomisierung und Medialisierung. Insbesondere ging er in seinem Referat auf die Gefahren eines Freihandelsabkommens zwischen Europa und den U.S.A. ein, das die Kultur zur Ware macht und den Konzernen aus Übersee freien Zugang z. B. zur europäischen Filmförderung verschafft. Gut vorstellbar, dass sie dann mit ihrem medial vermittelten hegemonialen Freiheits- und Identitätsmodell, das bei uns längst schon kultur- und identitätsbildend ist, auch die Schulen und Universitäten überschwemmen.

Auf lokaler Ebene kann die Bezugnahme auf die europäische Dimension helfen, die Spannungsfelder zwischen den Kulturen konstruktiv zu gestalten. Südtirol ist kein „dritter Raum“, sondern eine exemplarische Plattform des Austauschs und der Reibung zwischen den Kulturen. Wichtig ist, wie Scheytt erklärte, einerseits das Bewusstsein der eigenen kulturellen Wurzeln und die Pflege der Bräuche und Traditionen, aber andererseits ein verantwortungsvoller Umgang mit der Kultur „als Mittel der Differenz und der Abgrenzung“.

Während die Europäische Union auf dem Weg ist, das nationalstaatliche Denken zu überwinden, wächst der Stolz der Menschen auf ihre nationale bzw. regionale Identität. Ein Widerspruch? Auf jeden Fall ein ernst zu nehmendes Symptom der unterschiedlichen Geschwindigkeiten zwischen institutionellem Entwicklungspfad und gefühltem europäischen Geist. Darüber hinaus bestätigt diese Beobachtung die Polyvalenz der zu verarbeitenden kulturellen Einflüsse und die Vielschichtigkeit der individuellen Identitätsprägung. Die Dichotomie zwischen europäischer und regionaler Identität ist kein Widerspruch, der sich durch eine wie immer geartete Zuordnung zu einer der beiden Polaritäten auflöst, sondern ein Spannungsfeld der Entwicklung. In unserem Identitätsgefüge spielen regionale und ethnische Konnotationen für alle Sprachgruppen eine Rolle. Die Förderung der entsprechenden kulturellen Ausdrucksformen ist nicht nur legitim, sondern Voraussetzung für deren Erhaltung und Weiterentwicklung. Die „Ethnisierung des Kulturbegriffs“ (Klaus P. Hansen) würde jedoch eine regressive Verkürzung darstellen, zumal aus einem solchen Grundverständnis nahezu impliziter Hegemonieansprüche abgeleitet werden.

Im europäischen Kontext müssen wir bereit sein, aus einer ethnozentrischen Grundhaltung herauszutreten. Die europäische Dimension erschließt sich, wer die Umfriedung der „patterned customs“ (John Gillin) verlässt und sich auf die mühevolle Suche nach grundlegenderen Gemeinsamkeiten in Geschichte, Werten und Zielen macht und für eine Erweiterung der eigenen kulturellen Verortung offen ist. Das Burgfest auf Schloss Prösels ist in diesem Sinne als „dritter Raum“ eine wertvolle Initiative, die Platz für Reflexionen und Begegnungen zur Verfügung stellt. Zweifellos braucht Südtirol noch weitere „dritte Räume“, damit die Verständigung im Alltag und auf politischer Ebene sprachgruppen- und grenzübergreifend gelingt: Der angekündigte Konvent zur Reform des Autonomiestatuts kann hierfür eine bedeutende Rolle spielen, wenn die Beteiligung der Bevölkerung zu einem echten Anliegen und zu einem methodischen Kernelement des Prozesses gemacht wird.