Kultur | Salto Afternoon

Alter Kanon, neue Generation

Serena Valluzzi und Bruce Liu nähern sich dem Klavier mit gänzlich anderer Haltung und Stil. Die „next generation“ erzeugt Energie auch durch Reibung mit der Klassik.
Bolzano Festival Bozen: Bruce Liu
Foto: Tiberio Sorvillo
Am Dienstag lud Valluzzi (*1994) zur musikalischen Mittagspause im Merkantilgebäude, Liu (*1997) lockte das Publikum am Abend ins Konservatorium. Valluzzi brachte von Chopins Nocturne Nr. 2 in Es-Dur ausgehend ein Programm mit tänzerischen, wie auch exotischen Zügen zum Ausdruck: Debussys Estamp, Sehnsuchtsbilder mit Anklängen aus Indonesien, Granada und Orbec in der Normandie die Versatzstücke mit frei erfundenem verbindend werden von der Pianistin mit feinem Sinn vorgetragen: Die orientalisierenden Akkorde der Pagode werden mit großer Intensität und Nachdruck vorgetragen, die perlend dahinfließenden Passagen weichen. Die Fiktion eines Abends in Granada - wo Chopin nie war - übersetzt die Pianistin in echte emotionale Spannung und ein sich Abwechseln zwischen kristallinem Tönen mit zartem Anschlag im oberen Register, stampfenden Tönen ohne Zurückhaltung und beidhändigen, zurückhaltungslosen Eskapaden der Freude. Das dritte Stück von Debussy, welches an die Normandie Anklang fand, wird zu deeskaliert von einem direkten Einstieg zu einem schwindenden Tremolo, bei welchem der Gestus der Pianistin besonders sichtbar wurde.
 
 
Für die nächsten beiden Programmpunkte kehrte man konzeptuell auf die iberische Halbinsel zurück mit Isaac Albénizs „El Albaicín“ und Liszts „Rhapsodie Espagnole“, letztere das Glanzstück von Valluzzis Recital, wobei sie in beiden Stücken den Willen zu rhythmischer Autonomie in Pausensetzungen und Verzerrungen bewies, was Spannung in den Stücken, die Bezug auf traditionelle Tänze nehmen, generierte. Gerade die Rhapsodie hatte Statement-Charakter und war klares Schaustück für die Eigenarten der Musikerin.
Den Abschluss machte die Pianistin mit Tänzen in Reinform, den drei „Danzas Argentinas“ von Alberto Ginasteras, wo sich der Eindruck eines Paartanzes in dem der Interpretin beide Seiten zukommen, verdeutlicht: Mal trat sie bestimmend dominant-fordernd auf, mal fragend und als wäre ihr Spiel ein Angebot oder eine Verlockung. Als Zugabe ein Stück von Rodion Konstantinowitsch Schtschedrin, der Valluzzis kleinen Freiheiten im Umgang mit Rhythmus eine Affinität zum Jazz zur Seite stellte. Ein angenehmer Kurz-Reisetrip der sich mit einer knappen Stunde Dauer auf die Aufmerksamkeit des Publikums einließ.
 

Bruce Liu

 
Der Abend mit Liu teilte sich, obwohl auf dem Konzertprogramm nur von einer Pause zu lesen war, in drei gänzlich unterschiedliche Teile: Die Französische Suite Nr. 5 in G-Dur von Johann Sebastian Bach und Chopins Balladen Nr. 2 und 3, in F-Dur und As-Dur respektive.
Lius Interpretationen der Bachs Suiten kann man als präzise bezeichnen: Vollkommene Kontrolle im Anschlag, der eine Intention spürbar macht und in der man kein Zuviel oder Zuwenig ausmachen könnte, sowie in exakten, leicht angebrachten Trillern. Bei Chopins Balladen mischte sich etwas mehr rohe Emotion in das Spiel des Künstlers ein, welches sich auch in seinen Händen, vor allem aber im stampfenden linken Bein, das nicht mit den Pedalen beschäftigt war, Bahn bricht.
Nach der Pause ein um ein vielfaches interessanterer Vortrag von Ravels „Miroirs“, für welchen die Übergänge zwischen den fünf Sätzen kaum mehr waren als eine gespielte Note: Die Stille dauerte gerade so lang, wie der Nachhall der letzten Töne. Ein Kraftakt, der für 25 Minuten absoluten Fokus unter Beweis stellte. Dem autoreflexiven Thema der Musik war Lius zurückgenommener, präziser Vortrag mehr als noch angemessen, wie auf den Leib geschrieben. Es eröffnete sich eine räumliche Dimension auf der Bühne, eine Tiefe tut sich auf, was der Kontinuität geschuldet ist, die Liu zu schaffen weiß indem Zögern und Pausen knapp gehalten werden und Bewegungen mit einer Hand gespielt, von der anderen akzentuiert werden.
Auf Ravel folgt mit Liszts „Réminiscences de Don Juan“ in welchem beim jungen Pianisten auch eine leidenschaftliche Seite zu erkennen war, die in eine dramatische Steigerung mit zuhörends beschleunigtem Spiel, das in ein surreales Finale überging, nach welchem man sich einen Kollaps in die Erschöpfung erwartet hätte, nach dem Bruce Liu sich, von Stehenden Ovationen getragen allerdings noch ein kleines Jukebox-Konzert aus dem Stegreif entlocken ließ, mit ganzen fünf Zugaben.
 
 
Die letzte eine freie, humorvolle Neuinterpretation von Beethovens „Für Elise“, welche dem verbrauchtem Stück für Klavierschüler neues Leben als Jazzstück mit Ragtime bis Jazz-Charakter gab und als mitreißend statt einlullend wiederbelebte. Auch das braucht es: eine gewisse Portion nicht an Respektlosigkeit, sondern an Bereitschaft, Elemente des klassischen Kanons neu zu arrangieren. Ein Kanon der in Stein gemeißelt bleibt, ist schon jetzt ein toter.