Gesellschaft | Zeitgeschichte

Meister der Erzählkunst

Der tschechische Journalist und Schriftsteller Ludvík Aškenazy lebte und arbeitet in Bozen. Südtirol hat den Intellektuellen vergessen. Eine Hommage von Marta Markova.
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Foto: upi
Die Einladung von Professor Günther Pallaver der Michael Gaismair Gesellschaft in Bozen hatte mich zum Nachdenken gebracht. Im Buch “Auf Knopfdruck“ gebe es doch, so Pallaver, inhaltlich immer wieder Verbindungen zu Südtirol. Wie während des Ersten Weltkrieges, so auch in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieg; und auch danach, als die bekannte Fluchtroute der Juden, die von jüdischen Überlebenden des NS-Regimes und auch von prominenten Nationalsozialisten genutzt wurde. Die einen waren auf dem Weg nach Palästina, die anderen – oft über den Vatikan – nach Südamerika.
Aber wie einst Angelo Maria Rippelino die tschechische Kunstavantgarde in Italien bekannt machte, wie er Prag als magischen Ort der Geschichte popularisierte und damit auch Umberto Eco beeinflusste, so strahlt Bozen auch für die tschechische Intelligenz eine solche Magie aus.
Es liegt höchstwahrscheinlich an der historisch emotionalen Wahrnehmung der k.u.k. Monarchie, obwohl Paradoxweise gerade Tschechen diese vehement bekämpft hatten. Bozen wurde sehr wahrscheinlich mit der Persönlichkeit des Bernardus Placidus Johann Gonzal Nepomuk Bolzano identifiziert, der seinerzeit über die jeweiligen Nationalismen stand.
 
 
Ende des 19. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit der Sprachenreform des österreichischen Ministerpräsidenten Kasimir Felix Graf Badeni, kam es in Prag zu Ausschreitungen gegen Deutschsprachige und gegen Juden. In der Folge  zogen mehrere wohlhabende Bürger von Prag nach Südtirol. Und nur ein paar Jahre später, während des Ersten Weltkrieges, wurden italienischsprachige Südtiroler von der Frontlinie evakuiert und in Böhmen und Mähren „angesiedelt.“ 
In der neueren europäischen Kulturgeschichte ist Bozen mit dem Schriftsteller Ludvík Aškenazy verbunden. Er lebte ab 1976  in Bozen, Obstmarkt Nr. 45, am Ende des Durchganges eines prachtvollen altes Hauses mit weißen Fensterläden, im fünfstöckigen Zubau mit gläsernen Türen und einem Lift. Hier, weg von der pulsierende Marktstrasse, wohnte er. Dieses Bozener Domizil unterschied sich in seiner Architektur von seinem einstigen Prager Wohnsitz. Und hier verstarb er am Dienstag, den 18. März 1986. Seine Frau folgte ihm ein halbes Jahr später nach.
 

Wer war Ludvík Aškenazy?

 
Eine Legende unter den Schreibenden, ein Meister seines Faches, der Artikulation; ein poetischer Erzähler für Erwachsene, aber vor allem für Kinder über Stille und Seele, und über den Krieg. Sein Leben und Schaffung spiegelte alle die Umbrüche des vorangegangenen Jahrhunderts. Seine Bücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher waren in den 1960er Jahren in alle Sprachen übersetzt, sogar in Südafrika und in Finnland. 1963 wurde sein Hörspiel „Das Gespräch ging auf Ihre Rechnung“  mit dem „Prix di Italia“ ausgezeichnet. 1966 gewann er beim Filmfestival in Cannes den Drebuchpreis für den Film „Der Schrei“ von Regisseur Jaromil Jireš. 1977 wurde sein  Buch „Wo die Füchse Blöckflöte spielen“ mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet.
Er entstammte einer jüdischen Familie – die Mutter polnisch, der Vater tschechisch. 1921 kam er zur Welt in einem Zug, in einem Grenzgebiet zwischen Polen und Mährisch-Schlesien, in einem Grenzstadt, in einem Doppelstadt: in Teschen / Český Těšín. Er wuchs aber im ostpolnischen (westukrainische) Stanislau oder Stanislaw auf, im zweitgrößten Zentrum des damals polnischen Galizien. Auch dieser Ort aus Aškenazys Kindheit und Jugend wie auch dessen Name stehen heute für eine bewegende Geschichte. Bis zum Ersten Weltkrieg österreichisch und zwischen den Kriegen war Stanislau polnisch, wurde 1939 von den sowjetischen und 1941 von den deutschen Truppen okkupiert und nach 1945 Teil der Sowjetrepublik Ukraine; und 1962 wurde die Stadt umbenannt nach dem Schriftsteller Iwan Franko - in Iwano-Frankiwsk. 
 
 
 
Aškenazy studierte Slawistik in Lemberg. 1941, als deutsche Truppen Galizien besetzten, floh er in die Sowjetunion und wurde nach Kazachstan evakuiert, wo er kurze Zeit sogar an einer Mittlschule unterrichtete. 1942 trat er als 21 jähriger Freiwilliger in die Tschechoslowakischer Armee ein, die in der Sowjetunion aufgestellt wurde, absolvierte die militärische Offiziersschule und wurde als Verbindungsoffizier der 1. tschechoslowakischer Armee dem Stab der 1. und 4. Ukrainischen Front zugeteilt. In Mai 1945 kam der 24jähriger als Befreier nach Prag. Seine Familie lebte nicht mehr. Über das Schicksal seiner Eltern war er bereits informiert. Sie hatten während der deutschen Besetzung ein bezahltes Versteck bei einem Bauern gefunden, der sie aufgenommen hatte und in einer zemljanka leben ließ. Doch mit der Zeit wurde die Gier nach noch mehr Geld immer stärker und verleitete ihn zum Raubmord den beiden.
1945 lernte Aškenazy auch seine künftige Frau Leonie kennen. Sie war das einzige Kind aus der ersten Ehe Heinrich Manns mit der bekannten Prager jüdischen deutschsprachigen Schauspielerin Maria Kohn, später Kánová.
1933, nach der „Machtergreifung“ der NSDAP in Deutschland, war die 17jährige Leonie mit ihrer inzwischen geschiedenen Mutter in die Tschechoslowakei geflüchtet. 1942 wurde ihre Mutter in das KZ-Theresienstadt deportiert, Leonie war als „Mischling I. Grades“ inhaftiert und zu Zwangsarbeit verurteilt. 1945 brachte Klaus Mann - ein Offizier der US-Armee und Kanovás Neffe - sie in einem Jeep aus Theresienstadt nach Prag. 1947 starb sie an den Folgen des KZ-Aufenthaltes.
Aškenazy lernte Tschechisch erst in Prag  – zusammen mit seiner Frau Leonie. Sie lernten diese Sprache aber so gut, dass sie beide als Journalisten für den tschechoslowakischen Hörfunk arbeiten konnten. Aus dem Auslandskorrespondenten und Kriegsreporter wurde bald ein bedeutender Schriftsteller und Dramatiker, ein Sprach-Suchender, welcher zu einem poetischen Minimalisten aufstieg. Mit seinem breiten Spektrum eines Schaffens in verschiedensten literarischen Formen prägte er eine ganze Generation, vor allem Kinder und Jugend. Ab den 1950er Jahren arbeitete er als professioneller Schriftsteller und gehörte zu den prominentesten Autoren. 
 
 
Als ich in Mitte der 1960er Jahre nach Prag kam, um zu studieren, zog mich Aškenazys märchenhaftes Haus an der Kleinseite besonders an. Das Haus am Anfang des Jánský vršek  war einst von einem berühmten tschechischen Architekten italienischer Herkunft gebaut und bewohnt worden – von Jan Blažej Santini-Aichel. Auch dieses Viertel wurde von italienischer Architekten aufgebaut, wie in dieser Zeit ein wesentlicher Teil des alten Prag.
Die Malá Strana /Kleinseite wurde 1257 als Stadt mit ihrem Zentrum, dem Kleinseite Platz, von König Přemysl Otokar II. gegründet. Aškenazys Haus stand ganz prominent dort, in der unmittelbare Nähe des einstigen Barockpalais Schönborn, das Graf Karl Johann Schönborn (1890-1952), der Großneffe des Prager Kardinals Franziskus Schönborn und Großvater des aktuellen Wiener Kardinal Christoph Schönborn, 1919 an Richard Teller Crane II., an den ersten US-Botschafter in der Tschechoslowakei, verkauft hatte. Dieser verkaufte das Palais am Ende seiner Amtsperiode 1924 weiter an die Regierung der Vereinigten Staaten.
Ludvík Aškenazy und Leonie Aškenazy-Mann waren Kommunisten und Internationalisten, aber aus ihrer einstigen Illusion wurde politische und menschliche  Desillusion.
Aškenazys märchenhaftes Domizil konkurrierte mit dem ehemaligem Wohnsitz des Malers (und Schöpfers von Zeichentrickfilmen) Jiří Trnka z Čertovky Na Kampě / Auf der Kampa. Beide Häuser bildeten eine kulturelle Institution für sich: in der damaligen kommunistischen allgemeinem Grau strahlte ihre romantische zauberhafte Vergangenheit aus. 
1968, nach der sowjetischer Okkupation des Landes, verließ Aškenazy mit seiner Familie Prag, seine Wahlheimat, wo er 23 Jahre gelebt hatte. Ludvík Aškenazy und Leonie Aškenazy-Mann waren Kommunisten und Internationalisten, aber aus ihrer einstigen Illusion wurde politische und menschliche  Desillusion. Sie suchten ihr neues Zuhause zuerst in Deutschland, weil Aškenazys Frau Leonie 1916  in München geboren worden war und Aškenazy mit Münchener Hörfunk mitgearbeitet hatte.
 
 
 
Aškenazy – und hier gibt es eine Parallele zu vielen seiner Kollegen und Landsleute – ließ am Beginn der Emigration seine Texte übersetzten, doch später schrieb er sie in der neuen Sprache wieder selbst. Ziemlich bald entstand eine Reihe von Hörspielen für den ARD-Sender, die er oft auch selbst inszenierte. Seine Drehbücher wurden als Fernsehenspiele vom Bayrische Rundfunk und dem ZDF gesendet.
Als Aškenazy erkrankte, suchte er nach einem Wohnort mit angenehmerem Klima. 1976 wurde er in Bozen seßhaft. Dort lebte auch sein Zeitgenosse Vladislav Kavan.  Auch dieser war im August 1968 aus Prag geflohen, und – als Maler – entschied er sich gleich für Südtirol als neues Zuhause. In Bozen trafen sich die beiden wieder.
Der Rest ist Geschichte. Seit 33 Jahren ruht Aškenazy im jüdischen (privaten) Teil des Bozener öffentlichen Friedhofs, links vom Eingang, im Familiengrab Nr. 61. Sein unmittelbarer Nachbar links ist das Familiengrab Montefiori. Hinter ihnen (rechts vom Eingang) steht ein Denkmal, das an die unter der deutschen Besetzung Südtirols 1943 bis 1945 ermordeten Bozener Juden erinnert.
Gegenwärtig wird nicht mehr viel über den einstigen Meister der Erzählkunst gesprochen. Er hatte zwei parallele Welten geschaffen: eine Welt für Erwachsene, in Form von Reportagen und Erzählungen; und ab Ende der 1950er Jahre eine Welt für Kinder – Kinderbücher, Märchen.
Vergeblich würde man seinen Namen auf so genannter Liste der Persönlichkeiten des jeweiligen Ortes, wo er lebte, suchen –  in seiner Wahlheimat oder in seiner Geburtsstadt. Aber vielleicht wird eines Tages Bozen sich an den europäischen  Schriftsteller und Dramatiker Ludvík Aškenasy erinnern? 
 
 
Marta Marková, Journalistin, Autorin, geboren in Spiglitz (CZ), seit 1980 in Wien. In ihrem neuen Buch „ „Auf Knopfdruck – Vienna Postwar Flair“ beleuchtet sie die Hintergründe jener jüdischen Familien, deren Schicksal sich Oskar Seidenglanz mithilfe seines Netzwerkes zunutze machte, um mit seiner Textilkette OSEI zum „Wirtschaftswunder Österreich“ nach 1945 beizutragen. Marta Marková ist mit dem Politikwissenschaftler Anton Pelinka verheiratet.