Kultur | Interview

Als wir uns die Welt versprachen

Die Schriftstellerin Romina Casagrande behandelt Themen wie Kinderarbeit, frühes Leid, gestern wie heute in der Pandemie. Und sie zeigt Wege, die uns herausführen.
Welt
Foto: Fischer Krüger

Es war anfangs Januar 2020 als ihr Roman über die sogenannten Schwabenkinder - oder „Schwalbenkinder“ wie sie auch genannt wurden, da sie im Frühjahr auf die Reise gingen, um im Herbst wieder zu kommen, wie die bei uns so beliebten Zugvögel, eben, nur umgekehrt - in italienischer Sprache unter dem Titel „I bambini di Svevia“ erschienen war. Nun, ein bisschen mehr als ein Jahr später, gibt es diese auf vielen Ebenen außerordentlich interessant erzählte Geschichte auch auf deutsch (seit 10. März) und in französisch (seit 25. März). Romina Casagrande lacht erfreut, wenn sie darauf zu sprechen kommt, und betont, dass dies nicht nur ein persönlicher Erfolg für sie ist, sondern auch für die gewählte Erzählebene des Romans, denn, abgesehen davon, dass er in jeder Sprache einen anderen Titel bekommen hat (in Deutsch: „Als wir uns die Welt versprachen“, im Krüger Verlag, und in Französisch: „La promesse d’Edna”, also Ednas Versprechen, in den Fleuve Editions), wird er in den verschiedenen Ländern auch anders vermarktet bzw. gelesen. D.h., in Italien wird besonders die historische Seite beachtet und hervorgehoben, in Deutschland die persönlich erlebte Geschichte in der Figur der alten Frau, die sich 89-jährig auf den Weg macht, um ihren damaligen Freund aus den Kindesjahren aufzufinden, während in Frankreich eher der fabelhafte Aspekt ihrer Reise betont wird, als außerordentliches Wesen, das sich mit seinem einzigen Lebenskompagnon auf den Weg durch die weite Welt begibt, um ...


Romina, anfangs vierzig, wirkt selbst wie ein „fabelhaftes“ weibliches Wesen, in ihrer grünkarierten Bluse mit blauen Jeans, den feinen Gesichtszügen und den langen glatten roten Haaren. Fabelhaft im doppelten Sinne des Wortes jedoch, denn ihre Augen strahlen, wenn ich sie danach frage, ob es denn in ihren ersten Unterrichtsjahren im Vinschgau gewesen war, als sie diese Geschichte der Schwabenkinder entdeckt hatte. Sie bejaht und erzählt von ihren wunderbaren, deutschen Lehrkollegen, die über dieses, laut deren Ansicht gerade für jene Zone Südtirols, wichtige Thema zum Fokus eines Lehrprojektes machten. Fabelhaft, da sie diese als „Ideenstifter“ nicht ausschließt und fabelhaft, dass sie ihrer eigenen Neugier mit professionellem Wissen auf den Grund gegangen ist. Für uns alle, denn wer kennt schon diese Geschichte aus der Nähe? Viele von uns hatten davon gehört oder wussten irgendwie darüber Bescheid, und für Rominas Roman hatte genauso alles begonnen: sie wusste zwar, dass es seit jeher eine große Armut in den Vinschger Bauernfamilien gegeben hatte, was sie aber nicht wusste, war, dass die Kinder in die Ferne zur Arbeit geschickt wurden, denn jedes Kind, das nicht mehr da war, war ein Mund weniger zu füttern. Aber was sie besonders beeindruckt hatte, war die Härte dieser Entscheidung, vonseiten der Eltern ihren Kindern gegenüber, aber auch die Härte des Lebens der Kinder im Schwabenland bei den Bauern. Und dass viele darüber geschwiegen hatten. Vielleicht um leichter zu vergessen, sobald sie in der Erwachsenenwelt angekommen waren? Oder war es die Scham, die sie in die Welt der Erinnerungsverwehrung hineindrückte? Oder gar unterdrückter Ärger? Romina Casagrande hat sehr viel recherchiert, mit vielen Menschen gesprochen, sei es mit persönlich Betroffenen, als auch mit Geschichtsforscher Innen, um anschließend all das zusammengetragene Material zu bearbeiten. Wir haben uns kurz mit ihr getroffen, um über alte und neue “Härten” für die ganz Jungen zu sprechen.

salto.bz: Wie verlief die Recherchearbeit?

Romina Casagrande: Nachdem ich die Geschichte der Schwabenkinder schon ein bisschen kannte, also, dass diese Kinder nach Deutschland gingen, um dort zu arbeiten, habe ich mich auf die Suche nach weiteren Informationen gemacht. Was mich am meisten berührt hat, war die lange Zeit, in der es dies gab. Ich habe in einem Dokument aus dem Jahr 1619, das in Bludenz aufbewahrt ist, das erste Mal den Begriff „Schwabenkinder“ vorgefunden! Es ist schon beeindruckend, dass sich dies so bis in die Mitte des 20. Jahrhundert erhalten hat. Das war für mich wichtig zu wissen, denn sobald ich das Buchprojekt in Angriff genommen hatte, tauchte die Frage auf, wie weit ich mit meinen Figuren in die Gegenwart hineinkommen kann.  In den Archiven im Museum in Schluderns hören die Eintragungen im Jahr 1918 auf, denn die katholische Organisation, welche die Kinder auf die andere Seite der Grenze begleitete, wurde nach dem ersten Weltkrieg aufgelöst. Im Archiv in Ravensburg hingegen habe ich sehr hilfreiche Personen gefunden, die mir bei den Recherchen geholfen haben und dort gibt es Informationen über Kinder, die noch in den 1940er Jahren aus Italien gekommen waren, und mit Italien ist da Südtirol gemeint, denn das gehörte ja mittlerweile zu Italien, und Südtirol bedeutet in diesem Fall der Vinschgau. Diese Kinder wurden also bei der Abfahrt, aber auch bei der Ankunft, in Register eingetragen. Letzteres bedeutet, dass es nach 1918 keine offiziellen Verbindungen mehr gab. Dies ist schon interessant, dass unser Land hier einerseits so viele geschichtliche Veränderungen hatte, wie z.B. den Faschismus und die schon genannte Passage an Italien, und andererseits dieser Brauch trotz allem weitergepflegt wurde. Es galt fast als Tradition in einigen Familien, denn viele Kinder wurden sicher auch gut auf den Arbeitsbauernhöfen behandelt. Im Vinschgau gab es eine große Armut, besonders im 19. Jahrhundert, und in den kinderreichen Familien gab es nicht genügend zu essen für alle. 

Waren diese Kinder vor allem Jungen oder auch Mädchen?

Es gibt sehr dramatische Geschichten und Schicksale, besonders unter den kleinen Mädchen. Am meisten vertuscht werden die härtesten Geschichten, denn für die Leute, mit denen ich gesprochen hatte, war es schwierig, darüber zu reden, weil oftmals große Traumata verblieben waren. Das war dann auch äußerst berührend für mich, wenn sich diese Menschen entschieden hatten, mir ihre Geschichte zu erzählen. Ein Bibliothekar hat mir gesagt, er kannte eine Frau, die ihrer Mutter nie verzeihen konnte, dass diese sie nach Deutschland geschickt hatte. „Auf die andere Seite“, wie sie es hier nannten. Das zeugt von der verschwiegenen Gewalt, der diese Mädchen oft ausgeliefert waren. Wir haben Prozessakte gefunden, in denen wir lesen konnten, dass sehr couragierte Eltern einer gewissen Anna Fink, einen 40-jährigen Bauern im Schwabenland angezeigt hatten, da er diese erst 10-Jährige sexuell belästigt hatte. Das war Ende des 19. Jahrhunderts! Das ist aber sicher nur eine von vielen Geschichten, die hier ans Licht gebracht wurde. Wer weiß, wie hoch die Dunkelziffer war...
Das hat mich alles sehr betroffen gemacht, und so wollte ich - als doppelsprachige Meranerin im heutigen wohlhabenden Südtirol - diese Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Aber nicht als historisches Essay, sondern als Roman, um auch über Emotionen zu sprechen. Diese Schwabenkindergeschichte wirft sehr viele Fragen auf: welche Verantwortung vonseiten der Schule, der Erwachsenenwelt, war da oder war nicht da? Vor allem aber interessierte es mich, das Ganze vom Gesichtspunkt eines Kindes aus zu erzählen. Aber nicht von einem von damals, sondern dieses Kindes, das mittlerweile schon erwachsen ist und diese Erfahrung miterleben musste. Welche Erinnerungen gibt es? Gab es gerade deshalb Veränderungen in seinem Werdegang? Und vor allem: wie wurde dieser Schmerz überwunden oder erlebt? 
In Italien haben wir bei der Buchpräsentation sehr stark auf die historische Seite gepocht. Es gibt aber auch den Teil, der in der heutigen Gegenwart spielt, also Ednas Reise, als Greisin, die fast märchenhaft und mit großer Leichtigkeit beschrieben wird und mit entsprechend vielen Symbolen der Fabel versehen ist. Hier wird es wirklich emotional und es gibt viele positive Eindrücke und Botschaften. Das große Leid ist auf dieser Erzählebene nicht so präsent, wie in dem Teil, der in der Vergangenheit spielt, als sie ein kleines Mädchen war. Es wird allgemein als humorvolles Buch angesehen, das auch Mut geben kann. Und genau das braucht es, genauso wie die Verbreitung von Hoffnungsschimmer.

Sie haben das Buch in Italienisch geschrieben; wie ist es nun für Sie, als zweisprachige Frau, den Text in der deutschen Übersetzung zu lesen?

Das war für mich eine sehr interessante Erfahrung! Mittlerweile sind einige Sachen passiert, also zwischen dem Erscheinen in Italien und in Deutschland. Ein Jahr ist vergangen. Es gibt Stellen im Text, die in deutscher Sprache abgeändert wurden. Zum Beispiel die Szene, in der einige Kinder papierene Leuchtlaternen aufsteigen lassen. Diese wurde abgeändert, weil im Laufe der Monate einige davon noch mit brennenden Kerzen auf einen Zoo gefallen waren und deshalb viele Affen Feuer fingen und verbrannten. Diesen realen Vorfall will ich auf keinen Fall mit meinem Buch in Verbindung bringen! Wir hatten die Sorge, dass die deutschen Leser sich vielleicht an diese Tragödie erinnern könnten, und gerade das wollten wir vermeiden. So ist das in der Literatur, es passieren Dinge, welche die erfundenen Geschichten dann verändern, weil ganz andere Beziehungen hergestellt werden. Ich hingegen möchte mit diesem Roman hauptsächlich positive Energie verbreiten.
Der Verlag, Krüger, der dem Fischerverlag angehört, hat auf eine sehr sensible Übersetzung geachtet, in der ich mich wiedergefunden habe. Auch was die konkreten Aspekte betrifft, wie dieselbe Landkarte des Reiseverlaufes einzufügen, oder die Wahl des Titelbildes in schwarz-weiß mit den beiden Kindern. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass in Deutschland ein Buch als solches mit größerer Hinwendung betrachtet wird. Damit will ich sagen, dass es nicht nur als Objekt angesehen wird, sondern eher als sinnlich erfahrbares Kunstwerk, ausgehend vom Papier, dann den für die Titel der einzelnen Kapitel verwendeten Schriftcharakter - alles absolut stimmig mit dem Inhalt. 

Ich wollte mich mehr auf die Sprachebene beziehen, denn es ist nicht so einfach, die Eigenheiten einer Schriftstellerin in eine andere Sprache zu übertragen. Oft werden andere Lösungen gesucht, um dieselbe sprachliche Atmosphäre her- und darzustellen...

Klar haben wir hier keine „genaue“ Übersetzung, das hätte ich auch gar nicht gewollt. Meine Art zu schreiben ist nicht schwer, sie respektiert die Parataxe, was so viel heißt, dass es bei mir keine langen komplexe Satzbildungen gibt, die schwierig zu übersetzen sind. Natürlich war mir die poetische Seite wichtig, und diese wird auch in der anderen Sprache vollkommen widergespiegelt. Auch in der Benutzung der Adjektive, in der Art und Weise wie sie in den einzelnen Sätzen platziert sind, also, wie die Eigenschaften der Personen und Situationen hervorgehoben werden, die ich auch schon hervorgehoben hatte, gibt es viele originelle Entsprechungen. Es gibt einige, die das Buch in Italienisch und in Deutsch gelesen haben, und meinten, dass diese Geschichte sehr gut in letzterer Sprache zur Geltung kommt, da bestimmte Wortwendungen oder Orte einfach „heimischer“ wirken. Für mich war es besonders interessant, „mich“ in Deutsch zu lesen, während das in anderen Sprachen durchaus nicht der Fall sein wird, da ich sie nicht so gut kenne und deswegen dem Übersetzer oder der Übersetzerin totales Vertrauen schenken muss.

Sie wollten das Buch jedoch nicht selbst gleich in Deutsch schreiben?

Nein, denn die Sprache, in der ich mich mehr zu Hause fühle, ist die italienische. In dieser kann ich den emotionellen und poetischen Aspekt besser ausdrücken und ausarbeiten. Dafür habe ich in Deutsch nicht die notwendige Sprachkenntnis und –feinheit. 

Es heißt ja, dass die eigentliche Muttersprache die Sprache des Herzens ist, also jene, in der ich meine Emotionen ausdrücken kann, und das kann oft nicht die sein, in der ich aufgewachsen bin...   

Ja, da bin ich total einverstanden! 

Ich habe gelesen, dass das nicht das erste Buch ist, das Sie geschrieben haben...

Ja, ich habe schon einige Romane verschiedener Art geschrieben, die alle auf bestimmte Weise mit der Südtiroler Geschichte verbunden sind. „I bambini di Svevia“ ist jedoch der erste, der in einem großen Verlag erschienen ist. Es war ein sogenannter “Fall”, denn verschiedene Verlage hatten danach angefragt, weshalb es schließlich eine Auktion gegeben hatte.

Oh, das wusste ich gar nicht! Wie sind Sie soweit gekommen?

Durch viel Arbeit, ganz von der Pike auf, also wirklich sehr, sehr viel Arbeit! Denn in diesem Bereich findet man sich nur sehr langsam ein, lernt Menschen kennen, usw. Mit meinem ersten Roman wäre das unmöglich gewesen! Da war ich eine wahre Neueinsteigerin und der Text hatte viele Mängel in der narrativen Konstruktion. Diesen Fehler machen viele, denn sie glauben, schon mit dem ersten Roman den Durchbruch zu schaffen. Meistens kommt das aus dem emotionalen Hintergrund heraus, denn in den ersten Text steckt man halt viel auch von sich rein und denkt noch dazu, dass alles perfekt sei... In Wahrheit aber scheinen viele Schriftsteller weiterzuschreiben und weiterzuschreiben, um gerade ihr erstes Buch zu vergessen! (lacht von ganzem Herzen)

 

Wurde der deutsche Titel von Ihnen suggeriert oder hat ihn der Verlag vorgeschlagen?

Der Verlag. Der italienische Titel, in Deutsch “Die Schwabenkinder”, hätte zu sehr auf ein Essay hingewiesen und das wollten wir nicht. Dies hätte auf Anhieb die gesamte Prosa und den - wie schon gesagt - etwas märchenhaften Aufbau von vorne herein ausgeschlossen. Dieses Buch kann auf verschiedene Arten gelesen und interpretiert werden. Das haben mir schon viele gesagt, gerade weil es nicht nur die historische Seite aufzeigt. Genau das drücken auch die verschieden Titelseiten aus, also ich meine das italienische, deutsche und französische. Für letzteres wurde sogar ein Booktrailer mit Animationstechnik angefertigt, der auch im Internet zu finden ist, und genau die märchenhafte Weise unterstreicht, indem er auf Ednas Reise bzw. ihr Versprechen hinweist: sie und ihr Papagei, allein, aber gemeinsam, in die große weite Welt hinaus.

Da fällt mir ein Theaterstück ein, das ich letztes Jahr – als die Theater noch offen waren – gesehen habe, worin die Geschichte der Schweizer Kinder erzählt wurde, die als kleine Kaminkehrer nach Mailand verkauft wurden: „Die schwarzen Brüder“. Ich erinnere mich, dass ich zu jener Gelegenheit an die Schwabenkinder gedacht hatte, deren Geschichte ich persönlich nur aus der Ferne kannte, aber mir doch ähnlich vorkam...

Das finde ich sehr interessant, denn effektiv ist es so, dass die alpinen Bergkulturen sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Abgesehen von ihren Eigenheiten, der Identität oder der Staatsangehörigkeit. In den Bergen und in deren Kulturen zu leben, vereint. Das habe ich durch meine vielen Gespräche mit Historikerinnen herausgefunden, die viele, etwas versteckte Aspekte herausgearbeitet haben, wie z.B. das Leben der Frauen und ihre Vielseitigkeit. Mein nächstes Buch wird sich damit beschäftigen. Hierfür verdanke ich der Historikerin Edith Runggaldier, die sich intensiv mit der Frauenfigur in den Alpen beschäftigt hat, wie z.B. den Bergsteigerinnen und Lastenträgerinnen. Letztere haben sogar Männer samt ihren Ausrüstungen und Rucksäcken in vergangenen Jahren auf die Berge hinaufgetragen. Das waren vor allem Forscher oder Wissenschaftler aus der Lombardei oder anderen Regionen, die absolut nichts mit Alpinismus zu tun hatten. Diese Frauen hatten eine ganz andere Sichtweise auf die Berge als die Städter, weshalb erstere nicht verstehen konnten, warum diese Menschen unbedingt bis auf die Spitze hinaufwollten, wenn sie es schon allein nicht schaffen können. Sie drückten also hiermit auf höhnische Art ihre Missachtung aus. Ja, ich liebe es solche Geschichten unseres Landes zu erzählen! Das hat mit den Schwabenkindern begonnen, denn wie Sie schon gesagt haben, betrifft gerade dieses Problem nicht nur den Vinschgau, sondern auch viele andere alpine Regionen, wie in der Schweiz und in Frankreich, wobei viele immer noch unbekannt sind...

Eben das habe ich auch entdeckt, als ich ein Buch übersetzte, worin die Schwabenkindergeschichte kurz auftaucht und eine Freundin in Bologna, der ich es zum Lesen gegeben hatte, überhaupt nichts davon wusste. Es geht hier ja nicht nur um Arbeit von Minderjährigen, sondern um Kinder, die regelrecht verkauft und ausgenutzt wurden. Eine Tatsache, die gerne nicht gesehen werden will, weil man sie lieber in Süditalien oder Ländern der sogenannten Dritten Welt ansiedeln will. Aber bestimmt nicht im heutigen reichen Norden.

Ja, da ist es wichtig, die zeitlichen Parameter richtig zu setzen, denn in Wirklichkeit ist es viel näher an unserer Zeit, als wir es wahrhaben wollen. Wobei ich nicht nur von der Seite der Kinder sprechen will, sondern allgemein von der fragilen Seite in unserer heutigen Gesellschaft, wo auch die älteren Menschen mit inbegriffen sind. Es gibt immer wieder Versuche von Seiten der Gesellschaft oder dem Wirtschaftssystem, selbst noch diese auszunutzen. In meinem Roman sind es die Kinder, während wir aber auch sehen, was mit den Alten passiert, die an den Rand geschoben werden, weil sie nicht mehr „benötigt“ werden. Genau diese beiden Aspekte wollte ich in meiner Geschichte des kleinen Mädchens und der alten Dame zusammenführen, denn im Grunde geht es mir auch um die soziale Ausgrenzung, um jene bestimmte Denkart, die sich nur um Kapitalismus und Produktion dreht. In jeder Hinsicht! Wovon uns ja gerade die aktuelle Pandemie allerlei Schwächen und Widersprüche aufzeigt. 

Entstammt die Idee, Vergangenheit und Gegenwart zu verbinden, aus den von Ihnen eingesammelten direkten Erfahrungen oder eher daraus, nicht in die Gefahrenzone eines eventuell klassisch verlaufenden historischen Romanaufbaus zu geraten?

Meine Idee hierzu ist, dass die Geschichte einen Wert hat, aber die es als solche doch immer wieder neu zu betrachten gilt, und zwar von der Gegenwart aus, um deren Kontinuität aber auch die Verschiedenheiten aufzudecken. Wenn ich nur die historische Seite angegangen wäre, hätte dieser zweite Teil gefehlt. Das Fortleben. Denn es gibt den Schmerz, es gibt die Ausnutzung, es gibt eine zeitliche Epoche, aber all das wird dann zu etwas Anderem. Wie schafft man es, einen großen Schmerz zu überwinden? Ein Trauma, das einerseits gesellschaftlicher Natur einer Zeitperiode ist, aber andererseits auch individueller Art, von einzelnen Personen in ihrem Leben. Hier gibt es den Versuch dieses tiefe Trauma zu überwinden, einen sehr symbolischen noch dazu: die Reise. Ich denke, dass die größte Gefahr in einem großen Leid darin besteht, dass es uns blockiert, wie Tiere im Winterschlaf oft erstarren. Wir Menschen können uns an Vieles gewöhnen, an alles Mögliche. Das haben wir auch in dieser Pandemie gesehen. Die Kinder gewöhnen sich daran, in den Häusern eingesperrt zu sein, wir gewöhnen uns daran, anderen gegenüber zwei Meter Distanz einzuhalten, nicht mehr das tun oder haben zu können, was uns frei sein lässt oder auch nur Freude bringt. Wir gewöhnen uns an einen immer kleineren Käfig, eben wie Tiere das auch tun. Das heißt aber nicht, dass diese Anpassung uns zum Besseren führt - ganz im Gegenteil!  Genau das passiert auch, wenn wir etwas Schlimmes erleben, wobei wir uns daran gewöhnen, Teile unseres Selbst einfach wegzustecken, wie unser persönliches Glück, unsere Lebensfreude. Wie können wir diese dann zurückgewinnen? Indem wir aus diesem kleinen Käfig hinaustreten! Und dann Schritt für Schritt die Außenwelt, die uns vielleicht zurückgewiesen hatte, wieder erobern oder unseren eigenen Rückzug wieder rückgängig machen. Genau hier beginnt auch die Reise im Buch: Edna verlässt ihren vertrauten Ort und begibt sich auf die Reise, in eine Welt, die sie nicht mehr als die ihre erkennt. Die Berge haben sich verändert, alles bewegt sich viel schneller, es gibt die sozialen Medien... Da gesellt sich ein für mich wichtiges Thema hinzu: die Beziehung zwischen Jung und Alt. Edna hat viele Vorurteile gegenüber der heutigen jungen Generation und nicht nur. Dann merkt sie aber, dass ihr gerade diejenigen, die sie verdächtig anschaute, zu Hilfe kommen. Leid macht uns menschlicher. Wer selber großes Leid erfahren hat, ist meistens eher bereit anderen zu helfen.