Gesellschaft | Essstörungen

Insel der Klagen

Mit der Villa Eea eröffnet in Bozen ein Tageszentrum und eine Wohngemeinschaft für Menschen mit Essstörungen. Ein Gastbeitrag des Brixner Psychiatrie-Primars Roger Pycha.
Essstörungen sind sehr ernst zu nehmende psychische Erkrankungen.
Foto: freepik.com
Eea – oder altgriechisch Aiaia, ist die Insel der Zaubererin Circe. Es ist eine Insel der Klagen, wo verwandelte Menschen ihr Schicksal beweinen, aber auch wieder befreit werden können. Und das ist der Name und das Programm des im April 2022 eröffneten Zentrums für Essstörungen im Herzen Bozens: leidende Menschen so wandeln, dass sie wieder eine gute Chance im Leben haben. An Essstörungen Leidende.
Die gefährlichste Essstörung, und auch die weltweit tödlichste psychische Krankheit ist die Anorexie oder Magersucht. Bis zu 15 Prozent aller schwer Magersüchtigen versterben daran. Der Beginn der Erkrankung lag früher um die Volljährigkeit, inzwischen werden Betroffene aber immer jünger.  Die Coronakrise hat zusätzlichen psychosozialen Druck und Dauerstress erzeugt, der zu einer deutlichen Zunahme von Depressionen und Angststörungen geführt hat. Aber auch psychosomatische Störungen, allen voran die Essstörungen, sind häufiger geworden.
Magersüchtige entwickeln eine dauerhaft gestörte Wahrnehmung ihres Körpers und geraten damit fast unmerklich in eine Spirale zunehmenden Leides, das sich rasch auf die gesamte Familie ausweitet. Betroffenen fokussieren auf die Kontrolle des eigenen Essens. Sie sind häufig anfangs stolz darauf, diszipliniert fasten zu können und dünner, vermeintlich auch schöner, zu werden als andere. Sie kümmern sich eingehend um Kalorien, rechnen im Kopf aus, wie viel Energie sie sich zuführen, kochen häufig auch gut und gerne und halten andere an, viel zu essen. Sie selber aber hungern zähe, obwohl sie pausenlos an Essen denken.
Im Stress verbraucht das Gehirn bis zu 35 Prozent der gesamten Energie des Körpers, und dauerndes Hungern ist massiver Stress. Gleichzeitig wird aber durch das Fasten deutlich weniger Energie zugeführt, sodass das Gehirn in ein konstantes Kraftdefizit gerät, das wieder den Stress vergrößert. Ein Teufelskreis entsteht.
 
 
In Hungerzeiten können Menschen mit ganz wenig Energie auskommen und das eingeschränkte Gehirn täuscht ihnen vor, sie seien normalgewichtig und geistig zähe, sodass sie sich darum nicht so sehr kümmern müssen. Bei künstlich herbeigeführtem Hunger kann dieses eigenartige Wohlgefühl zur Falle werden. Es bewirkt, dass Betroffene Angst haben, zuzunehmen, weil das ihre Willensstärke brechen könnte. Ein Wettkampf Wille gegen Körper beginnt, der zu gefährlicher Auszehrung führt. Der Hunger verursacht Schlafmangel und Kältegefühl, die Dauerbeschäftigung mit dem Essen hat mangelnde soziale Kontakte zur Folge, es treten Muskelschwäche und Gehschwierigkeiten bei starkem Bewegungsdrang auf, ebenso Blähbauch und Herzmuskelschwäche, und die Monatsblutungen fallen aus. Und gerade wenn die gesamte Familie sich um gemeinsame Mahlzeiten bemüht, essen Betroffene umso weniger. Ein endloser Kampf ums Verzehren tritt auf, bei dem die Magersüchtigen ihre ganze Macht zeigen.
Ihnen wird die Gefahr des Verhungerns gar nicht bewusst, dazu sind sie längst zu schlecht ernährt. Deshalb müssen sie zunächst unter strengster Kontrolle wieder essen, kauen und schlucken lernen. Beim so genannten Unterstützungstisch im spezialisierten Zentrum führen Ernährungsberater oder Krankenpfleger die Aufsicht, damit Nahrungsmittel nicht versteckt statt gegessen und die Betroffenen gleichzeitig psychisch unterstützt werden. Magersüchtige wenden beim wöchentlichen Wiegen alle Tricks an, um eigenes Körpergewicht vorzutäuschen. Oft trinken sie vorher ein bis zwei Liter Wasser oder legen sich Blei oder Steine in die Kleider.
 
 
 
Es gibt ein medizinisches Maß für das Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße, den Body-Mass-Index. Normal sind Werte von 18,5 bis 25, darüber liegt Übergewicht, darunter spricht man von Anorexie oder Magersucht.
Jeder Body-Mass-Index unter 14 ist ein Grund, die Betroffenen in einer Einrichtung aufzunehmen und sie kontrolliert, manchmal sogar zwangsweise, zu ernähren. Betreuung und Behandlung von schwer Essgestörten ist eine der aufopferungsvollsten und schwierigsten Aufgaben der Psychosomatik, und muss in einem eigenen, hoch spezialisierten Zentrum mit genügenden Mitarbeitern erfolgen. Parallel zu den körperlichen und Ernährungsmaßnahmen sollen, sobald das Gehirn der Betroffenen leistungsstark genug ist, Psychotherapie und Familiengespräche stattfinden. Auch Kreativtherapien und (langsame) Bewegung, Aromatherapie und Entspannungsübungen können hilfreich sein.
Ihnen wird die Gefahr des Verhungerns gar nicht bewusst, dazu sind sie längst zu schlecht ernährt. Deshalb müssen sie zunächst unter strengster Kontrolle wieder essen, kauen und schlucken lernen.
All das kann endlich, in auf die einzelnen Patienten zugeschnittener Weise, am Therapiezentrum Villa Eea in der Carduccistraße 19 in Bozen angeboten werden. Es wird von der Sozialgenossenschaft Città Azzurra geführt und ist mit dem Südtiroler Gesundheitsdienst verknüpft, der auch die ärztliche Behandlung sicherstellt. Ein Tageszentrum garantiert Betreuung und beaufsichtigte Mahlzeiten für maximal 12 Betroffene ab 14 Jahren. Daran angeschlossen ist eine Wohngemeinschaft für längere Betreuungsverläufe mit einer maximalen Kapazität von 8 Plätzen. Die ärztliche Leitung des Zentrums hat der Koordinator des Südtiroler Netzwerks für Essstörungen, Prim. Dr. Markus Markart. Die organisatorische Leitung liegt in den bewährten Händen von Pfleger Antonello Sanna, der bereits andere psychiatrische Einrichtungen geleitet hat. Die Zuweisung erfolgt in Bozen über Mitarbeiter der Psychosomatik-Ambulanz der Città Azzurra in der Sparkassenstraße Bozen 8/2 und im restlichen Land über die Fachleute des Netzwerks für Essstörungen. Die Wohngemeinschaft steht Patienten aus ganz Südtirol offen, das Tageszentrum ist, da nur untertags geöffnet, Personen aus dem Großraum Bozen Leifers Meran vorbehalten.