Politik | Streitschule Spanien

Katalonien: Sezession oder Konzession...

Baldige Neuwahlen lassen den Konfliktparteien keine Atempause. Wer fragt schon nach Konfliktlösungskompetenz in einem auf die Sezessionsfrage zugespitzten Wahlkampf?
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Katalonien
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Spanien droht aufgrund der Verhaftung der Minister der abgesetzten katalanischen Regierung und des internationalen Haftbefehls gegen dessen bisherigen Ministerpräsidenten im Vorfeld der für den 21. Dezember angesetzten Neuwahlen in der Region eine Zerrreißprobe. Die Antagonisten im Konflikt um die Autonomie von Katalonien scheinen in einem Wettstreit dazu verfangen, wer mehr Fehler macht, lautete vor zwei Tagen die treffende Diagnose des Chefredakteurs des Portals www.linkiesta.it Francesco Cancellato. In seinem Kommentar malte er das für ganz Europa bedrückende Menetekel an die Wand, dass der innerstaatliche Konflikt zwischen der spanischen Regierung und der autonomen Region Katalonien im Falle einer weiteren bewussten Zuspitzung der Gewaltanwendung oder auch nur im Falle eines unbeabsichtigten Todesfalls ein irreversibles Zerwürfnis mit nicht absehbaren Folgen der Gewaltanwendung bewirken könnte.

Politische Dimension des Konflikts ignoriert

Kompromisslösungen standen die wiederholt bekräftigten Justamentstandpunkte der beiden Kontrahenten im Wege und ein damit befürchteter Gesichtsverlust, ganz nach dem Klischee spanischer Heißblütigkeit und der Zuspitzung einer komplexen Problematik auf Aut-aut-Lösungen. Da der spanische Ministerpräsident Rajoy nicht auf die Verhandlungsangebote des katalanischen Ministerpräsidenten Puigdemont eingegangen ist, sah sich dieser gezwungen, trotz der Drohung mit einem Verfahren nach Art. 155 der spanischen Verfassung grünes Licht für die Abstimmung des katalanischen Parlaments zu einer Abspaltungsresolution zu geben. Ministerpräsident Rajoy ignorierte beharrlich, dass die vom katalanischen Ministerpräsidenten Puigdemont forcierten Unabhängigkeitsbestrebungen nicht nur eine rechtliche, sondern vor alle eine politische Dimension aufweisen, und nur auf der politischen Ebene eine Lösung gefunden werden kann.

Die Einsetzung der juridischen Daumenschrauben gegenüber den politischen Akteuren auf der Ebene der Regionalregierung wirkt verstörend mittelalterlich und evoziert Erinnerungen an das Franco-Regime. Was Rajoy betreibt, entspricht nicht einer europäischen Problemlösungskultur, die auf Verhandlungen und auf Verständigung setzt und die Rolle der Regionen im Rahmen eines auf funktionaler Subsidiarität und proaktiver Solidarität geprägten Mehrebenengovernancemodells respektiert. Der Überreaktion gegenüber einem aufmüpfigen und bewusst provozierenden regionalen Ministerpräsidenten haftet eine Spur an Unbeholfenheit an, deren Lächerlichkeit durch die Ernsthaftigkeit der Absicht, die staatliche Repressionsmaschinerie bis zum bitteren Ende auszuschöpfen, in Bestürzung umschlägt. Ministerpräsident Rajoy hat es versäumt, das Verhandlungsangebot von Puigdemont in einen eigenen Lösungsvorschlag umzumünzen, mit dem er die Handlungskompetenz an sich zieht und dafür Zeit gewinnt, die komplexe innenpolitische Frage des Verhältnisses zwischen Staat und autonomen Regionen zu überprüfen und neu zu regeln. Die Einsetzung einer Kommission zur Überprüfung der seit Jahren virulenten Problematik kam für Rajoy anscheinend nie in Frage. Eine nur auf die Normierungen gestützte Staatsraison der veranlasste ihn dazu, jeglichen Schlichtungsversuch durch ad hoc eingesetzte interne oder externe Stellen strikt abzulehnen, womit er auch der EU-Ebene keine Handlungslegitimität eröffnete.

Was kann Ministerpräsident Rajoy jetzt tun?

Er sollte zu diesem Zeitpunkt auf die bedingungslose Rücknahme der Sezessionsabsichten durch Puigdemont verzichten und politisch aktiv werden, um auf dem Verhandlungswege das langfristige Ziel der Einbindung Kataloniens in das Staatsgefüge Spaniens sicherzustellen. Indem er Verhandlungen anbietet und auf die Sezessionsbefürworter zugeht, schafft er sich politischen Spielraum und wendet den Zugzwang ab, unter den er sich selbst und die spanische Regierung gesetzt hat. Offenheit für neue Lösungsmodelle tut dem Anspruch auf Integrität des Staates Spanien keinen Abbruch. Eine vielversprechende Strategie könnte darin liegen, einen umfassenden Diskussions- und Verhandlungsprozess zur Überprüfung, Überarbeitung und Harmonisierung der Autonomiemodelle für die einzelnen Regionen in Gang zu setzen. In diesem Rahmen könnten neue Ansätze die aktuelle Konfliktdynamik positiv verändern, indem sie die Verbindungen zwischen den verschiedenen Regionen und dem Staat als gemeinsamem Dach bewusst machen. Mit der Erarbeitung einer Konsensgrundlage zur Neujustierung der Kompetenzen und der Finanzflüsse zwischen dem Staat und den Regionen könnte eine strukturelle Innovation einhergehen, die der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger und der regionalen Gemeinschaften neue demokratische Verve verleiht.

Die kurzfristige Ansetzung von Neuwahlen zum katalanischen Parlament für den 21. Dezember ohne Inangriffnahme der politischen Valenz des Konflikts war kein guter Schachzug. Die angeheizte politische Stimmung zum Sezessionsthema wird in den nächsten Wochen jegliche politische Debatte um andere Themen überlagern. Es ist wahrscheinlich, dass die Parlamentswahlen zu einer erneuten Abstimmung zum Sezessionsthema hochgekocht werden und somit nicht die Voraussetzungen für eine politische Wahl zu den regionalen Sachthemen erfüllen. Ministerpräsident Rajoy kann sie jedenfalls nicht abwarten ohne ein deutliches inhaltliches Signal an die dortige Bevölkerung zu schicken. Die spanische Regierung muss bekunden, dass sie zur Kenntnis genommen hat, weshalb sich ein relevanter Prozentsatz in der Abstimmung am 1. Oktober für die Unabhängigkeit ausgesprochen hat und sich Hunderte von Bürgerinnen und Bürgern den Schlagknüppeln der Guardia Civil ausgesetzt haben, um ihre Meinung zum Verhältnis zwischen Staat und Region trotz des Verbotes zu äußern. Sie muss aufzeigen, welche Weichenstellungen sie zum strittigen Verhältnis zwischen Staat und Region zu setzen gedenkt. Am besten ist es, wenn sie ein konkretes Entgegenkommen in Bezug auf entsprechende Verfahren zur Neuregulierung zeigt. Signale zur Verhandlungsbereitschaft sind die Minimaloption. Die können nur dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn die eingesperrten Regierungsvertreter Kataloniens auf freien Fuß gesetzt werden und sich auch der abtrünnige Puigdemont frei bewegen und dem Wahlkampf vor Ort stellen kann.

Verhältnismäßigkeit der Instrumente als Maßstab

Derzeit spricht vieles dafür, dass Ministerpräsident Rajoy an dem bedingungslosen Unterwerfungsanspruch der sezessionsbereiten katalanischen Regionalregierung gegenüber dem Grundsatz der Unteilbarkeit des Staates weiter festhält. Die Frage der Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Instrumente ist in einem demokratischen Gefüge bei der angekündigten „Wiederherstellung von Legitimität und Ordnung“ ein entscheidender Aspekt für die Beurteilung der Handlungsweise des Staates. Sollte Ministerpräsident Rajoy ohne jegliche Kompromissfähigkeit die zwar legitimen, jedoch im Kontext von friedlich ausgetragenen Kompetenzkonflikten unangebrachten staatlichen Machtinstrumente einsetzen, so könnte dies die Regierungskoalition ins Schwanken bringen. Wenn Rajoy keinen Weg findet, um den Konflikt friedlich und im Respekt vor den jeweiligen Standpunkten und Argumentationen zu lösen, so werden sich die Regierungsparteien die Frage stellen müssen, ob er die geeignete Person ist, den Zusammenhalt des Landes zu gewährleisten. Puigdemont hat den Anspruch Kataloniens auf Eigenständigkeit energisch vorangetrieben und verkörpert nun die Sezessionslösung. Deshalb könnte es für die katalanische Bevölkerung ratsam sein, sich mit der Frage zu befassen, ob eine erneute Bestätigung von Puigdemont als Ministerpräsident, sofern es gelingt, die notwendige parlamentarische Mehrheit zu erlangen, nicht für Fortschritte in den Autonomiebestrebungen hinderlich ist.