Kunst | Archäologie

Aufgelesen

Welches Wissen, aber auch welche Interpretationsmöglichkeiten in Bodenproben stecken, untersuchen eine Künstlerin und Archäologin gemeinsam bei Ar/Ge Kunst. Wer suchet, findet.
Geography of Looking
Foto: Tiberio Sorvillo; Ar/Ge Kunst
  • Unter dem Titel „Geography of Looking“ eröffnete die Künstlerin Milica Tomić mit der Archäologin Ana Bezić die neue Recherche-Ausstellung der Ar/Ge Kunst Galerie in der Bozner Museumstraße. Der Titel, übersetzt als „Geographie des Sehens“ hätte mit „Geographie des Schauens“ wohl noch genauer wiedergegeben werden können, ist diese „Schau“ auf Bodenproben und vergangene Jahrhunderte doch eine bewusste Lenkung des Blicks, kein bloßes passives Eintreffen von Signalen. Die von Zasha Colah und Francesca Verga kuratierte Ausstellung geht über unbewusste Wahrnehmung jedenfalls deutlich hinaus und bewegt sich im Bereich des Nachdenkens über das Sehen selbst.

  • Geography of Looking: Archäologin Ana Bezić bei der Arbeit. Foto: Tiberio Sorvillo; Ar/Ge Kunst

    Das Verfahren und der Prozess des Auflesens von Fakten und Interpretationen aus dem Erdreich stehen dabei mehr im Vordergrund als das, was es effektiv zu sehen gibt. Zentrales Stück der Ausstellung ist daher, das an der archäologischen Stätte von Can Hasan in der Türkei entwickelte Ankara-Flotationstanksystem in einer leichten Abwandlung mit Sichtfenster an der Seite. Über das dreistufige System werden (organische) Schwebstoffe, die leichter als Wasser sind, von der Oberfläche abgeschöpft, was für die Ausstellungsdauer mit ausgewählten Erdproben aus Südtirol - wie jener von der Grabungsstätte in Kastelruth - fortgesetzt wird. Es geht um die Durchführung einer Geste und mehr Verständnis für den Prozess, seine blinden Flecken und seine Stärken.

  • Grundlegend für die (symbolische) Forschung sind dabei Zeitungsstapel lokal erhältlicher Printmedien (auch die Dolomiten ist dabei und das soll hier kein Euphemismus sein), die Auswahl der aufgeschlagenen Artikel mit näheren und weiter entfernten Konfliktherden ist eine sprechende: Internationale Konflikte in denen es auch um „Bodengewinn“ geht werden zur Unterlage für in Filterpapieren eingefangene Überreste der „Dreck“-Wasser-Emulsion. Es handelt sich dabei um das eigentlich uninteressante, nicht schwebende Material, dass den Besucher der Ausstellung an Rorschachtests oder Kaffeesatz-Lesungen erinnern mag. Man macht sich also im „militanten White Cube“ die Hände schmutzig. Wozu? 

    Der Künstlerin Milica Tomić, Mitbegründerin der Grupa Spomenik (Monument-Group), bei welcher auch Bezić Mitglied ist, geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen in welchen Rastern wir, auch beim Durchsieben von Erde und der Betrachtung von kleinsten Fundstücken, denken. Die Monument Group, ein 2002 anlässlich einer Ausschreibung der Belgrader Stadtverwaltung für ein “Monument in Gedenken an die Kriege auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens” gegründetes Kollektiv, brachte sich bis 2006 in den Diskurs ein.

    Grob verknappt ist ihre Position die der Unmöglichkeit eines solchen Monuments, mit gleichzeitigem Verweis auf die Möglichkeit, die Themenkomplexe rund um diese Kriege in tiefer schürfenden Gesprächen vertiefen zu können. Man erinnerte daran, dass der Krieg von 1991 bis 2001 zu den wenigen ohne einen allgemeinen Namen zählte und auch, dass bei der Dokumentation der Opfer und dem kolossalen Bestreben der Rückgabe einer Identität und Wiedervereinigung der Hinterbliebenen mit den Überresten diverse Schwierigkeiten bestehen. Spätestens da kommt die Politik in den Boden: Es werden Bosniaken, Kroaten und Serben unter den Opfern gezählt, religiöse und kulturelle Ethnien werden ausgeklammert, bzw. können anhand von Knochenfunden oft nicht rekonstruiert werden. Wenn sich dann keine Monument-Group oder eine andere Gruppierung, die protestiert findet, so kann unsere Art zu schauen, Geschichte zu betrachten, mitunter auch geschichtliche Realität über die Fakten hinaus konstruieren.

  • Geography of Looking: Die Ausgangsmaterie der Forschung. Was kann uns der Boden erzählen, was erzählt er eines Tages vielleicht von uns? Foto: Tiberio Sorvillo; Ar/Ge Kunst

    Gut, ganz so aufwühlend sind die Erkenntnisse der Untersuchungen unweit einer Schule nicht. Die größten Fundstücke, welche man bis Freitagabend aus der Erde geholt hatte, waren zwei kleine Knochenstücke (wohl von Tieren) und ein kleiner Plastiklöffel. Zugegeben, das ist genauso spannend wie das Bild einer Archäologin, die mit feinem Pinselchen Staubschicht für Staubschicht abträgt. Spannender sind dagegen schon die Prozesse, inklusive der Fehler, die sich in diesen einschleichen. Besonders auch dieser Aspekt wurde von der Künstlerin Tomić mit Transparenz und Interesse behandelt, wohl auch da eines ihrer Kerngebiete neben Territorium und politischer Gewalt das gesellschaftliche Vergessen ist. Die Quellenlage auf die wir, gerade in einem unsteten Archiv wie dem Boden zurückgreifen können, ist eine unvollständige, Interpretation und aus dieser resultierende Fehler sind damit fast unausweichlich.

  • Der zweite Raum versucht diese Fehler mitzudenken. Eine Reihe von Fachaufsätzen, Büchern mit Markierungen, sowie philosophische Essays zu Geschichte und Geschichtsforschung werfen Fragen auf, die in der Ausstellung in aufgelöster Form, schwebend Eingang gefunden haben, ein bisschen wie pflanzliche Überreste in einer Wasser-Dreck-Emulsion die ausgeschöpft wird. Was passiert, wenn sich die Geschichte gänzlich auflöst, kann man im kleinen Büchlein zur Ausstellung sehen, das es für vier Euro in dreisprachiger Ausgabe zu kaufen gibt. Auf dreizehn Seiten liest man in sagen- bis märchenhafter Prosa von einem Gebiet, auf dem verschiedene Kulturen untereinander im Konflikt stehen und sich an den Grund dieses Konfliktes nicht mehr erinnern.

    Ganz und gar interpretativ aktiv werden kann man auch bei der kleinformatigen Bildarbeit, welche den Galerieraum rückwendig abschließt. Die Künstlerin hat damit verschiedene territoriale Zugehörigkeiten des Territoriums, auf dem wir uns befinden zu verschiedenen übergeordneten geschichtlichen Gebieten verbildlicht. Die Größe der einzelnen Farbflächen ist dabei eine Skalierung nach Jahren, für welche Römer, Räter und Faschisten etwa vorherrschend waren. Was Form und Farbe der Flächen zu bedeuten haben, bleibt dabei Interpretationssache. 

  • Geography of Looking kann bis zum 3. Februar 2024 besucht werden.