Offener Brief an den Südtiroler Landtag
Zum vierten Mal in zwanzig Jahren wird der Südtiroler Landtag in der ersten Märzwoche 2015 unsere in einem Gesetzentwurf vorgelegten Vorstellungen von einer wirksamen und gut anwendbaren Regelung der politischen Mitbestimmungsrechte behandeln und darüber abzustimmen haben.
Eine jedes Mal größer werdende Anzahl von Menschen hat den Gesetzentwurf immer wieder im Landtag eingebracht, zuletzt waren es ca. 18.000 aus allen Gemeinden des Landes.
In zwei Volksabstimmungen haben sich jeweils große Mehrheiten für unseren Vorschlag, gegen die geltende Regelung und zuletzt auch gegen eine, nur von der SVP vertretene Neuregelung der Materie ausgesprochen. Diese enthielt zwar wesentliche Verbesserungen (Abstimmungen über Verwaltungsakte, Einbindung des Landtages, Quorum und Information) gegenüber der in der Volksabstimmung 2009 nur von 17% der Abstimmenden bevorzugten geltenden Regelung, sie hätte aber zugleich den Zugang und die Durchführbarkeit enorm erschwert.
Weder Verfassungswidrigkeit noch Systemunvereinbarkeiten sind belegbarWir fragen uns deshalb, welches jetzt, nach diesen mehrfach so entschiedenen Willensbekundungen der Bevölkerung, noch die inhaltlichen Gründe des Landtages sein können, unseren Vorschlag erneut mehrheitlich abzulehnen. Wir stellen fest, dass nach der Legitimierung unseres Vorschlags durch die zwei Volksabstimmungen nur zwei Gründe übrig bleiben:
a) eine vermeintliche Verfassungswidrigkeit und
b) die undifferenzierte und vollständige Übernahme des Schweizerischen Modells.
Beide Einwände sind völlig unberechtigt. Hier nur einige wichtige Punkte:
zu a) Abgesehen davon, dass uns nie mitgeteilt worden ist, worin diese Verfassungswidrigkeit konkret bestehen soll, weisen wir darauf hin, dass mit dem Verfassungsgerichtsurteil 372/2004 unmissverständlich festgehalten ist, dass „jede Region die Formen, die Art und die Kriterien für die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den Prozessen demokratischer Kontrolle über die regionalen Akte frei wählen kann.“ Das betrifft also die Wahl der Instrumente, ihre Ausgestaltung und den Bereich ihrer Anwendung. Sollte dennoch irgend eine spezifische Regelung Zweifel über die Vereinbarkeit mit der Verfassung aufwerfen, dann wäre damit nicht der gesamte Gesetzentwurf anfechtbar, sondern nur eine spezifische Regelung, die sich auch nach ihrer Anfechtung durch die italienische Regierung unschwer beheben ließe oder die durch das Verfassungsgericht zu prüfen wäre.
zu b) Dieses „Schweizerische Modell“ gibt es nicht, es gibt in der Schweiz nur weitgehend durchgängig vorhandene Charakteristika. Diese finden sich, abgesehen von jener, die den Ausschluss von Themen betrifft, auch in der italienischen Ordnung der Mitbestimmungsrechte (das bestätigende Referendum, das Nullquorum, die niederen Einstiegshürden, das Verwaltungsreferendum usw.). In jenen Punkten, in denen grundsätzliche Unterschiede bestehen, weicht auch unser Vorschlag von den Regelungen in der Schweiz ab.
Unser Gesetzentwurf ist keine MaximalforderungWir haben den Eindruck, dass unser Gesetzentwurf grundsätzlich als eine Maximalforderung angesehen und abgetan wird. Auch das ist unberechtigt. Unser Bestreben beim Verfassen des Gesetzentwurfes war nicht ein Maximum an Möglichkeiten der Mitbestimmung und ebenso nicht ein Maximum an Erleichterung derselben, sondern eine Regelung, die unter den gegebenen Bedingungen möglich sein soll. Zum „Maximum“ der Möglichkeiten würden z.B. das Finanz-, das obligatorische und das konstruktive Referendum, die Satzungsinitiative und anderes mehr gehören. Ein Maximum an Erleichterung wären niederere Hürden, wie sie z. B. in der Schweiz gelten, ein Nullquorum, keine Beglaubigungspflicht bei der Unterschriftensammlung, keine Zulässigkeitsprüfung (wie in der Schweiz), die Briefwahl und einiges andere mehr.
Wir verwehren uns folglich dagegen, zwischen der von uns vorgeschlagenen ausgewogenen Regelung und der als unbrauchbar erwiesenen des geltenden Gesetzes, noch einmal einen Kompromiss finden zu wollen. Unser Vorschlag ist, wenn man schon von Kompromiss reden will, bereits ein solcher, sonst hätten ihm wohl kaum 40 Organisationen, darunter so mitgliederstarke wie die Gewerkschaften ASGB, CGIL und CISL, der AVS, der Bund der Genossenschaften, die Verbraucherzentrale, der VKE und der Heimatpflegeverband, zugestimmt. Entscheidend ist es, die Regelungen sachlich begründen zu können, was wir bis ins letzte Detail getan haben.
Prüfung durch die Venedig-Kommission des Europarates im April/Mai 2015Obwohl wir nicht nur von der Qualität der von uns vorgeschlagenen Regelung der Direkten Demokratie überzeugt sind, sondern uns diese auch von den obersten internationalen Instanzen zur Beurteilung der Direkter Demokratie (IRI-Europe, C2D Aarau, Weltkongress der DD) bestätigt worden ist, werden wir auch die Anwesenheit der Venedig-Kommission des Europarates kommenden April/Mai im Trentino zu einer weiteren Bewertung unseres Vorschlags nutzen. Diese Kommission wird auf Einladung des Trentiner Landtages das Volksbegehren unserer Schwesterorganisation „Più Democrazia in Trentino“ begutachten, das in vielen und in den wesentlichen Punkten unserem Vorschlag entspricht.
So wie im Trentiner Landtag die Behandlung des Volksbegehrens zu diesem Zweck ausgesetzt worden ist, so wünschen wir uns für den Fall einer etwaigen Ablehnung durch die Landtagsmehrheit von den Fraktionen des Südtiroler Landtages, dass sie unseren Vorschlag alle gemeinsam wieder im Landtag einbringen, damit er nach der Begutachtung der Venedig-Kommission im Landtag ernsthaft zusammen mit dem Vorschlag, den die Kommission erarbeitet, behandelt werden kann. Der Ablauf der Gesetzesfrist zur Behandlung unseres Vorschlages kann nicht der Grund sein, unser Volksbegehren unbehandelt sozusagen auf der Strecke liegen zu lassen.
Die Anhörung der Bürgerinnen und Bürger darf nicht als „partizipativer Prozess“ verkauft und zum Alibi für die Ablehnung des Volksbegehrens und für einen neuen restriktiven Gesetzentwurf werden.Wir sehen die Gefahr, dass die laufende Anhörung der Bürgerinnen und Bürger des Gesetzgebungsausschusses jetzt missbräuchlich als ein „partizipativer Prozess“ hingestellt wird und als Rechtfertigung dient, unseren Volksbegehrensvorschlag von der Landtagsmehrheit unbehandelt „unter den Tisch fallen zu lassen“. Es wäre die x-te Missachtung eines demokratischen Engagements von Bürgerinnen und Bürgern und würde sich in nichts vom bisherigen - völlig unqualifizierten - Umgang der Landtagsmehrheit mit den vorhergehenden Bemühungen vieler Tausender Menschen im Land und so vieler Organisationen unterscheiden.
Zweifellos wird nach der Anhörung der Gesetzgebungsausschuss unter der Regie der SVP als Mehrheitspartei einen neuen Gesetzesentwurf zur Direkten Demokratie erarbeiten. Diese Anhörung bindet aber den Gesetzgebungsausschuss in keiner Weise. Eine solche Bindung ist auch immer wieder während der Anhörung explizit ausgeschlossen worden, zurecht ist kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben worden und lässt die Art und Weise, wie die Anhörung angelegt worden ist, für die Ausformulierung des Gesetzentwurfes um nichts weniger Spielraum, als bisher.
Die einzige wirkliche Garantie für eine ernsthafte und glaubwürdige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist in diesem Fall nur mit einer beratenden Volksabstimmung (gemäß Art. 16 des geltenden Gesetzes 11/2005) über den Vorschlag der Initiative und den des Gesetzgebungsausschusses gegeben. Nur eine solche kann gewährleisten, dass der neue Gesetzentwurf nicht wieder ein SVP-interner Kompromiss ist und dieses Verfahren nur als Deckmantel herhalten muss, sondern dass damit tatsächlich ein Mehrheitswillen der Bürgerinnen und Bürger zur Geltung kommen kann.
All das bitten wir Sie bei der anstehenden Behandlung im Sinne der beiderseits gewünschten Zusammenarbeit zu bedenken und zu berücksichtigen.
Bozen, 26. Februar 2015