Marokkanische Rhythmen

Es ist es soweit: Mitte Mai dröhnt und bebt Essaouira in Marokko, wie jedes Jahr: Das 1998 gegründete “Gnaoua-and-World-Music-Festival” beginnt. Die ganze Medina der Perle am Atlantik wird vom Klang der Trommeln, der Blech-Kastagnetten und des Gesangs erfasst - Tag und Nacht -. Auf allen grösseren Plätzen sowie am Strand werden Bühnen aufgebaut, auf denen nachmittags und abends stundenlange Konzerte stattfinden. Eintritt frei! Auch dieses Jahr wird sich niemand in Essaouira dem grossen Rausch des Gnaoua Festivals, welches von privaten Sponsoren finanziert wird, entziehen können. Tausende Touristen reisen an. Sie mischen sich unter Marokkaner und Marokkanerinnen und werden zu ihresgleichen. Die alten, bärtigen Dschellaba-Träger, verschleierte Frauen, Studentinnen, gekleidet nach der neuesten Sommermode, kopftuchtragende Altersgenossinnen und jugendliche “Rastaköpfe”. Alle kommen sie, um Gnaoua zu feiern – ein traditionelles, fast vergessenes Musikkulturerbe, welches eine Renaissance feiert.
Die Gnaoua, eine ethnische Minderheit in Marokko, sind Nachfahren der Sklaven aus dem westafrikanischen Guinea. Sie sind vor allem durch die rhytmusbetonte Musik bekannt geworden. Bespielt werden traditionelle Instrumente wie Tbal (mit Stöckchen geschlagene Fasstrommeln) und die Langhalslauten Sintir und Gimbri. Der Ursprung der Musik ist darin begründet, die Geister zu vertreiben.
Die Lieder weisen religiöse Aspekte auf, rufen islamische Schutzheilige an, besingen aber auch die Erfahrungen der Sklaverei, die Sehnsucht nach der Heimat wie das Unrecht in der Diaspora. Im Laufe der Zeit mischten sich die Gnaoua mit anderen Volksgruppen und nahmen deren Einflüsse auf. Heute werden die Texte auf arabisch oder in einem der vielen Berber-Dialekte vorgetragen. Einige afrikanische Wörter überlebten in den Liedern. So ist der Gnaoua ein Beleg für die, oft verdrängte, gemeinsame Kulturgeschichte mit den schwarzafrikanischen Ländern. Zudem steht er für einen Islam, der vielfältige Praktiken und Interpretationen der Religion toleriert.
Die Mischung aus Mystizismus und Musik machte die Gnaouas bereits in den 60er Jahren für viele Reisende aus aller Welt interessant. Jazzgrössen wie Joe Zawinul und Nguyen Le waren hier schon zu Gast. Essaouira wurde zu einem Musik-Mekka der Hippies: Jimi Hendrix verweilte einige Monate hier und soll in einem alten verfallenen Sultanspalast den Song “Castles made of Sand” geschrieben haben. Auch Cat Stevens oder Led Zepplin wurden von den Gnaouas in den Bann gezogen. Heute sucht das Festival seinen Platz zwischen Globalisierung und Tradition. Nicht nur puristisch-traditionelle Gnaoua-Musik ist zu hören, sondern die Gnaoua-Sounds gehen zum Teil gewagte Symbiosen mit Jazz und Worldbeat ein. Das Festival würdigt nicht nur die Tradition, sondern unterstreicht mit Fusion- Experimenten auch eine moderne und selbstbewusste islamische Kultur, die für Toleranz, Offenheit und Liberalität steht. Diese Werte widerspiegeln die neue marokkanische Verfassung, welche 2011 vom König Mohamed VI. verabschiedet wurde und demokratische Reformen vorsieht. Während vor einigen Jahrzehnten die progressive Kulturszene noch unter dem Generalverdacht der Subversion stand, reflektiert heute, das grösste nordafrikanische Musik-Festival, den Öffnungsprozess Marokkos.
Während den letzten Jahren häuft sich jedoch Kritik nicht nur seitens der traditionsbewussten, fundamentalistisch denkenden Muslimen, welchen der kulturelle Aufbruch ein Dorn im Auge ist. Das Essaouira-Festival wird oft als “ein Hort der Drogen, der Ausschweifungen und der Homosexualität” beschimpft. Aber auch weltoffene aufgeschlossene Essaouiri beachten mittlerweile ihr Festival mit zunehmender Skepsis. Die Stadt stösst an die Grenzen ihrer Infrastruktur. Das beschauliche, in sich ruhende, Essaouira mit seinen 90.000 Ansässigen zählt während den Festivaltagen doppelt so viele Einwohner. Viele Essaouiri flüchten während den Festivaltagen vor den anwesenden Rasta– und den in den 60er Jahren stehengebliebenen Hippiehorden. Sie ziehen sich zurück aufs Land und in die nahegelegenen noch immer mittelalterlich anmutenden Dörfer. Die Besinnlichkeit, die Intimität, der gemächliche Rhythmus des täglichen Lebens in Essaouira – sagen viele - sei in diesen Tagen nicht spürbar.
Ganz anders hingegen zeigt sich Essaouira während des “Festival des Alizes” , das seit 2001 alljährlich im April stattfindet und jüdische, christliche und muslimische Kultur verbindet. Symphonische, klassische Musik, Chorgesang und Opernarien, dargeboten von berühmten Musikern und internationalen Orchestern, werden in einer idyllischen Umgebung präsentiert. Gemütlich schlendernd durch die Medina, den Hafen, die Auktionshallen für frischen Fisch betrachtend, der Stadtmauer mit ihren wuchtigen Toren entlanggehend, die Place Mouley Hassan bestaunend, die gemütlichen Cafes besuchend, die Wehranlagen bewundernd, die Märkte für Fisch, Fleisch, Geflügel, Gemüse und Gewürze und natürlich die vielen geheimen, geheimnisvollen Gassen erkundend, inspiriert die Stadt die Künstler welche in uns allen schlummern.
Ende Mai kehrt nach dem Ganoua-Festival in Mogador (wie Essaouira früher hiess) wieder Ruhe ein. Die Möven ziehen am wolkenlosen Himmel in der frischen Brise wieder ihre gewohnten Kreise. Im Rauch der Fischerbuden am Hafen sitzen Einheimische und Touristen gemütlich zusammen. Die Händler der Medina feilschen mit ihren Kunden und die blinden Bettler bitten um kleine Almosen. Muslime, Christen und Juden leben in Eintracht zusammen. Ein lebendiger Beweis, dass friedliches Zusammenleben möglich ist und wäre.