Kultur | Salto Weekend

Aufbruch am Berg

In Ausgabe #170: Atlas Stelvio der Zeitschrift Kulturelemente dreht sich alles um das Dorf Stilfs. Ein Gastbeitrag.
Radtag am Stilfser Joch
Foto: LPA

„In Stilfs den Hebel ansetzen und die Welt verändern.“ In diesem Satz aus der Erzählung Midland in Stilfs von Thomas Bernhard wird das Südtiroler Bergdorf zum archimedischen Punkt der Weltveränderung. So beschreibt es Literaturwissenschaftler Toni Bernhart. Die Veränderung beginne im Kontrast zwischen scheinbarer Bedeutungslosigkeit des Ortes und seiner Welthaltigkeit. Ironischerweise soll genau dies nun in Folge einer realpolitischen Fügung geschehen, insofern Stilfs durch eine Reihe baulicher und sozialpolitischer Maßnahmen bald ein Exempel für die umliegende Region werden soll.
 

Mount Everest unter den Radstrecken


Stilfs ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Ort. Das 400-Einwohner-Dorf liegt im Nationalpark Stilfser Joch, wo es sich wie ein Nest an einen steilen Hang schmiegt. Das allein würde es noch nicht zu einer nennenswerten Ortschaft machen, denn ausgesetzte Bergdörfer gibt es in den Alpen zuhauf. Das außergewöhnliche ist vielmehr, dass dieses romanische Haufendorf im Ortlergebiet italienweit und darüber hinaus ein Begriff ist. In ganz Europa, selbst in Amerika und bis nach Südafrika kennt man Stilfs, unter seinem italienischen Namen „Stelvio“. Denn die Stilfserjoch Pass-Straße ist die Königsetappe des Giro d’Italia, der jährlich weltweit von Millionen Zuschauern verfolgt wird. Mit Google-Suchergebnissen in zweistelliger Millionenhöhe (derzeit 26 Mio.) lässt „Stelvio“ einige europäische Vorzeigekonzerne im Internet hinter sich. Wie kam es dazu?
Schenkt man den Berichten der Radfahrer Glauben, so gilt die Strecke auf das Stilfserjoch als der „Mount Everest unter den Radstrecken“, also jene Route, die man einmal im Leben bewältigt haben muss. Auch namhafte Unternehmen haben die Marke Stelvio bereits für sich in Anspruch genommen, etwa Alfa Romeo. 2016 präsentierte der Sportwagenhersteller seinen SUV Stelvio werbewirksam auf dem gleichnamigen höchsten Gebirgspass Italiens, dem verschneiten Stilfserjoch. Dies förderte nicht nur die Verkaufszahlen des SUV, sondern steigerte einmal mehr die Bekanntheit des Bergdorfes.

Stelvio, Stilfs, Stilz

Im Marketing könnte man Stilfs daher ohne weiteres als Dauerbrenner oder Marke mit hoher Brand Awareness und hohem Brand Value bezeichnen. Gelungen ist das ganz ohne Marketing seitens der Stilfser. Vielmehr bezeichnen die dem Branding ihres Ortsnamens vollkommen gleichgültig gegenüberstehenden Einwohner ihr Dorf weiterhin als „Stilz“ und sich selbst als „Stilzer“, zwei Begriffe, die in Google genau null Ergebnisse generieren, in krassem Gegensatz zu „Stelvio“.
Den Einwohnern ist es einerlei, die Touristen fahren ohnehin am Dorf vorbei. Während die Tourismusbranche und Unternehmen aller Art vom Ruf der Stilfserjoch Straße profitieren, haben die Stilfser selbst am allerwenigsten davon.
Touristen residieren in überschaubarer Menge in dem abgeschiedenen Dorf, das ganz gewiss keine Wellness- und Luxusdestination ist. Urlauber residieren lieber in der Umgebung, einige wenige im quirligen Prad und im hochalpinen Trafoi und die meisten im Skidorf Sulden, das mit seinen Luxushotels bestens auf gehobenen Tourismus eingestellt ist, während Stilfs weiter im wohlverdienten Dornröschenschlaf verweilt. Auch Trafoi wird mehr und mehr zu einem Durchfahrtsort, wäre da nicht der umtriebige Gustav Thöni, der rettet, was zu retten ist. 
 

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Klar gibt es auch in Stilfs einige wenige Hotels und Gasthäuser, in denen man gut speisen und gesellig beisammensitzen kann. Es gibt sogar einen kleinen Lebensmittelladen. Noch gibt es ihn. Er findet sich etwas über der Grundschule und dem Fußballplatz, der turmhoch eingenetzt ist, damit der Ball nicht übers Feld hinaus ins Tal hinunter fliegt. Die Brand Awareness brachte also keinen übermäßigen Aufschwung mit sich
und das Leben im Bergdorf verlangt seinen Einwohnern auch heute einiges ab. Aus diesen und anderen Gründen war das Dorf in den letzten Jahrzehnten von Abwanderung betroffen, während es nur wenige Menschen, zumeist Künstler und Freigeister, anzog.
 

Aber wie steht Stilfs zu seiner Umgebung?


Nun soll sich in kurzer Zeit vieles ändern. Ein Maßnahmenpaket der Regierung soll den Trend umkehren. Insgesamt rund 20 Millionen Euro sind im Rahmen eines staatlichen Förderprogramms dafür vorgesehen, die Abwanderung zu stoppen und aus Stilfs ein Vorzeigeprojekt zu machen, dessen Pioniergeist auf die ganze Umgebung ausstrahlt. Aber wie steht Stilfs zu seiner Umgebung? Es ist unwahrscheinlich, dass es in einer solch unsymmetrischen Konstellation weder Zank noch Missgunst gibt: auf der einen Seite das reiche, luxuriöse Sulden und rundherum die strukturschwächsten Dörfer Südtirols. Noch dazu gehört Sulden politisch zur Gemeinde Stilfs. Die Menschen in Sulden und in Stilfs, die ich auf diese Rivalität anspreche, nicken alle mit dem Kopf, klar gibt es Unstimmigkeiten, aber darüber sprechen erscheint allen müßig. Es gibt wichtigeres, der Blick unterm Ortler ist vertikal, nach oben gerichtet.
 

Ein Dorf im Aufbruch. Doch wer oder was bricht auf?


Hier wird – in den Worten Thomas Bernhards – nun also der Hebel angesetzt und die Welt verändert. Ein Dorf im Aufbruch. Doch wer oder was bricht auf? Der Regierungsfonds ging unter anderem deshalb an Stilfs, weil bereits ausgereifte Pläne zur Dorfgestaltung in der Schublade lagen. Pläne, die aufgrund von Ressourcenmangel immer wieder aufgeschoben worden waren: Pionierprojekte, die Stilfs ohne Ausverkauf und ohne die Marke Stelvio wieder für junge Menschen attraktiv machen wollen; denn das Hauptziel besteht darin, jungen Familien Anreize zur Rückkehr anzubieten.