Politik | Gastbeitrag

Harakiri in Paris

Frankreich taumelt. Premier Bayrou will ein radikales Sparbudget durchsetzen, doch Parteien und Bevölkerung sind geschlossen dagegen. Falls er scheitert, wankt Macron – und mit ihm ein geschwächtes Europa.
Bayrou
Foto:  GAIZKA IROZ / AFP
  • Eigentlich gilt der 74jährige Christdemokrat Francois Bayrou als besonnener Pragmatiker und erfahrenes Urgestein der französischen Politik. Umso mehr überraschte der Regierungschef die Öffentlichkeit, die Medien und die urlaubenden Politiker (mit Ausnahme von Präsident Macron), als er im Hauptferienmonat August für Montag 8. September eine Vertrauensabstimmung in der Assemblée Nationale ankündigte. Die enorm hohe Staatsverschuldung erfordere den Beschluss eines radikalen Spar-Budgets für 2026, lautet die Begründung.

  • Blut und Tränen gegen den Finanzkollaps

    44 Milliarden Euro müssten eingespart werden. Die Pensionen würden eingefroren, der Selbstbehalt bei medizinischer Versorgung erhöht, 3.000 Beamte entlassen, zwei Feiertage gestrichen und die „wohlhabendsten Franzosen“ müssten höher besteuert werden. Diese Blut- und Tränen-Einschnitte seien unumgänglich, wolle man den drohenden Kollaps der Staatsfinanzen abwenden.

    In der Tat stellen die 3.300.-Milliarden Euro Staatschulden 114% des BIP dar, nur Italien mit 134% und Griechenland mit 150% stehen schlechter da. Allerdings riskiere Frankreich laut „Le Monde“ derzeit schon höhere Zinsen für seine Staatsanleihen bezahlen zu müssen als Italien, weil Italien aufgrund seiner politischen Stabilität und strengeren Budgetpolitik für Investoren als sicherer gelte – ein schwerer Schlag für das französische „Selbstbewusstsein“. Jedenfalls muss Frankreich allein für 2025 ganze 67 Milliarden Euro an Zinslast stemmen und das jährliche Budgetdefizit würde ohne Sparmaßnahmen 5,4% betragen. Dass Bayrou öffentlich Italien beschuldigt hat, durch Steuerdumping gezielt große Vermögen und „paperoni“ aus Frankreich nach Italien zu locken, hat die vor allem durch die regelmäßigen Beschimpfungen Macrons durch Lega-Chef Salvini ohnehin angespannten franco-italienischen Beziehungen zusätzlich vergiftet.

  • Keine Regierungsmehrheit und drohender heißer Herbst

    Die hohen Staatschulden, übermäßiges Budgetdefizit und das lahmende Wirtschaftswachstum (2025 ca. 0,64%) werden für Frankreich aber erst durch die politische Instabilität zur echten Gefährdung. Um die seit einem Jahr herrschende Dauerkrise zu verstehen, bedarf es eines Blicks zurück.    

    Bei den Wahlen zum EU-Parlament im Juni 2024 erlitt die regierende Partei Emmanuel Macrons Renaissance mit lediglich 14,5% der Stimmen eine krachende Niederlage. Das Rassemblement National von Marine Le Pen fuhr mit fast 32% hingegen einen spektakulären Sieg und den Platz als stärkste Partei des Landes ein. Rechnet man die 5,5% der Le-Pen-Nichte Marion Maréchal mit Reconquète und zwei kleine Splittergruppen dazu, dann haben 40 % der Wähler und Wählerinnen rechtsextrem und EU-feindlich gewählt. Als Antwort auf die schmachvolle Delegitimierung ergriff Macron die Flucht nach vorne, löste das Parlament auf und setzte Neuwahlen an, mit lediglich drei Wochen Vorbereitungszeit. Die Kalkulation dabei: beim nationalen Mehrheitswahlrecht mit zwei Durchgängen sind die Parteien zur Bildung von Wahlbündnissen und zu Absprachen pro Wahlkreis gezwungen. Damit ließe sich die extreme Rechte wieder ausgrenzen und zugleich eine demokratisch legitime Regierungsmehrheit gewinnen. Das riskante Va-Banque-Spiel wurde zum Boomerang.

    Die Le-Pen-Partei konnte sich mit einem knappen Drittel der Stimmen als stärkste Partei etablieren, aber das aus Sozialisten, Kommunisten, Grünen und den Radikalen Unsoumis (Die Unbeugbaren) des Volkstribuns Jean-Luc Mélenchon bestehende Linksbündnis wurde mit 178 Sitzen von 577 stärkste Fraktion in der Assemblée Nationale. Die Partei des Präsidenten, zwei konservative und die kleine zentristische Partei Francois Bayrous bilden den dritten Block. Eine Regierungsmehrheit erreichte allerdings keiner der drei unversöhnlichen Blöcke.

    Präsident Macron beauftragte den verdienten konservativen Europapolitiker Michel Barnier mit der Bildung einer Regierung der relativen Mehrheit, die von Marine Le Pen „toleriert“, also nicht á priori durch einen Misstrauensantrag zu Fall gebracht wurde. Nach drei Monaten scheiterte Barnier, ebenfalls an der Frage des Budgets. Dann übernahm Bayrou – aber seine neun Monate waren mehr ein Verwalten als ein Regieren. Jetzt hat er selbst die Reißleine gezogen.

  • Marine Le Pen: Die Le-Pen-Partei konnte sich mit einem knappen Drittel der Stimmen als stärkste Partei etablieren Foto: upi
  • Wieder eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen?

    Schon allein weil Bayrou die Vertrauensabstimmung angesetzt hat, ohne vorher ernsthaft mit den Sozialpartnern und den anderen Parteien über sein Sparbudget verhandelt zu haben, wird die Regierung wohl fallen. Von 11 Parteien haben 8 ihr Nein schon angekündigt. Die extreme Rechte und die radikal-linken Unsoumis fordern zudem lautstark Neuwahlen oder sogar den Rücktritt Macrons und vorgezogene Präsidentschaftswahlen. Macron antwortete umgehend, er werde bis zum Ende seiner Amtszeit 2017 keinesfalls zurücktreten und Parlamentswahlen, bei denen Umfragen der extremen Rechten weitere Gewinne voraussagen, will er ebenfalls verhindern. Stattdessen umwirbt Macron offen die sozialistische Partei, um eine neue Koalition aus der gemäßigten Rechten bis hin zu den Grünen, aber unter Ausschluss der radikalen Linken zu schmieden. Die Sozialisten ihrerseits haben ein Alternativ-Budget mit lediglich  21 Milliarden Einsparungen erarbeitet, wollen aber im Falle einer Koalitionsregierung den Premierminister stellen.

  • Die Angst vor einer neuen Gelbwesten-Bewegung

    Während sämtliche Parteien fieberhaft diskutieren, konsultieren und spekulieren, braut sich eine massive Protestbewegung zusammen. Wie schon die parteiübergreifende und dann zum Teil auch gewaltbereite Bewegung der Gelbwesten im Jahr 2019, geht die Initiative auch diesmal via Internet von verschiedenen, diesmal mehrheitlich linken Basisgruppen aus. Den Auftakt machte eine Gruppe, deren Namen auch Programm ist: Les Essentiels – „Die Wesentlichen“. Ihr Schlachtruf lautet „Bloquons tout“ – blockieren wir alles! So soll am 10. September die Arbeit niedergelegt und ganz Frankreich blockiert und lahmgelegt werden: Verkehr, Konsum, Spitäler, Schule, Medien etc. Motive, Forderungen und Slogans sind sehr breit gefächert – Frust über Teuerung, Arbeitsbedingungen, soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Krieg und Klima und vor allem heftiger Zorn auf die Mächtigen und Regierenden – also in der besten revolutionären Tradition Frankreichs. Während von den Gewerkschaften nur die ehemals kommunistische CGT ebenfalls mobilisiert, haben sämtliche wichtigen Gewerkschaften gemeinsam für den 18. September zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Begründung: man wolle erst streiken wenn klar ist, wer die neue Regierung und ihr Chef seien.

  • Eine Destabiliserung Macrons wäre auch eine Schwächung Europas

    Bei aller berechtigten Kritik an der teils unrühmlichen Innenpolitik Macrons, besonders in seiner zweiten Amtszeit, ist dem französischen Präsidenten auf internationaler Ebene durchaus Positives gelungen. So etwa die von Frankreich gemeinsam mit Saudi Arabien organisierte New Yorker Konferenz zu Israel/Palästina, bei der neben gewichtigen westlichen Staaten (Großbritannien, Kanada, Italien, Spanien etc.) auch bedeutende arabische Staaten wie Saudi Arabien, Ägypten, Jordanien, Katar erstmals  das Massaker der Hamas vom 7.Oktober 23 verurteilt und die Entwaffnung und Auflösung der Hamas gefordert haben, während die Hamas bisher als Widerstandsbewegung bezeichnet wurde. Eine durchaus historische Wende, die Möglichkeiten einer Friedenslösung im Nahen Osten ohne amerikanisch-israelischer Monopolstellung eröffnet.

    Auch bei der Unterstützung der Ukraine und dem Aufbau einer autonomen europäischen Verteidigungspolitik spielt Frankreich als Atommacht und Mitglied des UNO-Sicherheitsrates mit Vetorecht eine fundamentale Vorreiterrolle, gemeinsam mit Großbritannien und Deutschland. Würde Macron innenpolitisch erheblich geschwächt, wäre Europa im Zangengriff des hybriden und expansionistischen Krieges Putins einerseits und des irrlichternden, erpresserischen Despoten in Washington anderereits noch schwächer als es durch die Uneinigkeit der EU-Mitgliedsstaaten ohnehin dasteht.