Chronik | Ende des „andazzo“: Mindestsicherungsleistungen werden an strikte Regeln geknüpft.

E così SIA! Hilfe für einkommensschwache Familien in Sicht.

Die Regierung Letta beabsichtigt, mit dem Stabilitätsgesetz einen Grundstein zur Armutsbekämpfung zu legen. Das hat zumindest Arbeits- und Sozialminister Enrico Giovannini angekündigt. Am 26. September ist das Konzept für ein bedarfsorientiertes Mindesteinkommen „Sostegno all’inclusione attiva“ (SIA) von Experten/innen auf einer Tagung in Mailand vorgestellt worden. Ob es umgesetzt wird, hängt von der Prioritätensetzung, den politischen Mehrheiten und der Bereitschaft zur Innovation des Sozialsystems ab.
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Die Armutsbekämpfung ist angesichts der Wirtschaftskrise neben der Garantie angemessener Renten eines der wichtigsten sozialpolitischen Anliegen. Am 18. September hat Arbeits- und Sozialminister Minister Giovannini ein Konzept zur Armutsbekämpfung mit der Bezeichnung „Sostegno all’inclusione attiva“ (SIA) vorgelegt.  Der komplizierte Name der finanziellen Unterstützungsmaßnahme gibt den programmatischen Inhalt wieder: die Eingliederung in den Arbeitsmarkt und ins soziale Leben stehen im Vordergrund. Die Eckpfeiler wurden auf einer Tagung in Mailand am 26. September von Experten/innen der Forschungsgruppe um IRS, ARS und Universität Modena-Reggio Emilia erläutert.

Mit diesem Vorschlag können neue Prinzipien in der italienischen Sozialpolitik verankert werden: Universalität, Eigenverantwortung, Leistungsanspruch aller auf dem Staatsgebiet Ansässigen, regionale Ausdifferenzierung des Leistungsumfangs, lokale Verantwortung für Verwaltung und Kontrolle. Hier nun eine Übersicht dazu, wie sich die Experten/innen eine wirksame Maßnahme zur Armutsbekämpfung vorstellen:

Kein bedingungsloses Grundeinkommen

Anspruch auf die SIA haben Menschen bzw. Familien, die nachweislich in Armut leben. Es handelt sich also um eine bedarfsorientierte Maßnahme und nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Eigenverantwortung und aktive Arbeitssuche werden groß geschrieben: Wer um die SIA ansucht, muss mit den sozialpolitischen Anlaufstellen auf lokaler Ebene einen Pakt unterzeichnen, der die Einkommensstützung mit der Bereitschaft der Einzelnen verbindet, aktiv zu werden, damit die (Wieder-)Eingliederung ins Arbeitsleben gelingt. Dazu gehört die unmittelbare Verfügbarkeit für die Annahme von Arbeitsangeboten, die aktive Arbeitssuche und die Teilnahme an Weiterbildungs- und Umschulungsmaßnahmen. Die Maßnahme entspricht somit der Strategie der Verknüpfung von der Hilfestellung und Einforderung von Eigenverantwortung (Fördern und Fordern), die die europäischen Sozialsysteme inzwischen allenthalben prägt.

Universelle Sozialleistung

Alle ansässigen Bürgerinnen und Bürger ohne ausreichendes Einkommen für die Bestreitung der lebensnotwendigen Ausgaben werden laut dem Entwurf Anspruch auf diese Mindestsicherung haben, egal ob Arbeitnehmer/innen oder Unternehmer/innen oder freiberuflich Tätige, ob Jung oder Alt, ob mit Familienlasten oder ohne. Dass die sozialstaatliche Hilfe allen Bedürftigen zugutekommt anstatt wie bisher nur einzelnen Kategorien ist ein wesentlicher Reformschritt für das italienische Sozialsystem. Er kann die Akzeptanz öffentlich finanzierter Solidarität deutlich verbessern und die Gemeinwohlorientierung stärken.

Die SIA wird auf dem gesamten Staatsgebiet ausgezahlt. Als eines der letzten europäischen Länder könnte damit Italien eine allgemeine Grundsicherungsmaßnahme für alle auf dem Staatsgebiet ansässigen Personen einführen. Bei der Berechnung der SIA wird das unterschiedliche Niveau der Lebenshaltungskosten in den einzelnen Regionen und zwischen städtischen Ballungsgebieten und ländlichem Raum berücksichtigt, was die Sache gerechter, aber auch komplizierter macht. Als Rahmenbedingung von Bedeutung ist auch die unterschiedliche Leistungskraft der öffentlichen Hand.

Familieneinkommen als Bezugswert

Ausgehend vom einheitlichen Instrument zur Einkommens- und Vermögenserhebung ISEE als bereits operativem Indikatorenset dient die Familie als Bezugspunkt für die Ermittlung der Bedürftigkeit und die Bemessung der finanziellen Unterstützung. Wer das Geld bekommt, muss auch dafür Sorge tragen, dass alle Familienmitglieder entsprechend ihrer Bedarfslage daraus Nutzen ziehen. Zur Berechnung der Höhe der SIA wird ein dem allgemeinen Lebensstil entsprechender Warenkorb verwendet, in dem private Konsumgüter und Dienstleistungen sowie öffentliche Transfers und Leistungen zusammengefasst werden. Wahrscheinlich wird die offizielle Grenze für die absolute Armut laut ISTAT-Daten eine vorrangige Rolle spielen. Daraus ergibt sich, dass die SIA auf die Abdeckung der Grundbedürfnisse abzielt: Essen, Wohnen, Gesundheit, soziale Anschlussfähigkeit. Vielleicht wird auch Bildung als Grundbedürfnis eingestuft.

Lokale Sozialbehörden als Verwalter

Die SIA besteht in einem Aufschlag, der den bedürftigen Einzelpersonen und Familien auf ihr spezifisches Einkommen in Relation zum ermittelten Richtwert für die Abdeckung der Grundbedürfnisse gewährt wird. Der Bezug des SIA ist grundsätzlich auf Jahresbasis angelegt und steht zu, solange die finanzielle Notsituation besteht. Dass dieser Zeitraum so kurz wie möglich ausfällt, ist eine Frage der Detailregelung und der Arbeitskultur: In Schweden beträgt die durchschnittliche Bezugszeit etwa ein halbes Jahr. Die Auszahlung erfolgt über das INPS. Die Verwaltung des SIA, was die Verifizierung der Voraussetzungen, den Abschluss des Leistungspakts und die Begleitung der entsprechenden Maßnahmen angeht, wird den lokal zuständigen Sozialbehörden übertragen. In Südtirol könnte dies der Sprengel sein, wobei dem Land eine Richtlinienkompetenz in Abstimmung mit den gesamtstaatlichen Regeln eingeräumt würde.

Zusätzlich zur Einkommenserhebung sieht der Entwurf eine weitere dem Bezug der Unterstützung nachgelagerte Kontrolle vor: Es wird nämlich auch Aufgabe der lokalen Behörden sein, das Konsumverhalten der Nutznießer/innen zu verifizieren. Sollte das Konsumverhalten darauf Hinweise ergeben, dass keine Armutssituation gegeben ist, kann der Leistungsbezug eingeschränkt oder (befristet) eingestellt werden.

Kostenminimierung dank Umbau des Transfersystems

Die Kosten des SIA werden in der derzeitigen Hypothese auf etwa sieben bis acht Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Etwa sechs Prozent der Familien wären Nutznießer der Maßnahme. Einsparungseffekte könnten sich aus der Rationalisierung der familienpolitischen Maßnahmen ergeben, etwa durch die Einführung eines einheitlichen Kindergeldes anstatt der Steuerabzüge für die zu Lasten lebenden Familienangehörigen und der Familienzulage. Damit würde auch das Problem derer („incapienti“) behoben, die über ein zu geringes Einkommen verfügen, um überhaupt das Recht auf Steuerfreibeträge geltend zu machen. Zur Minimierung der Kosten könnte laut Vorschlag des IRS auch die Kürzung der Sozialrenten und der integrierten Mindestrenten für jene Bezieher/innen gedacht werden, die laut ISEE zu den obersten Einkommenskategorien gehören. 

Kommentar

Politischer Stimmungsopportunismus oder ein konkreter Schritt zur Verankerung einer universellen Mindestsicherung? Das wird sich zeigen, wenn das Stabilitätsgesetz verabschiedet wird. Chiara Saraceno, Soziologin von internationalem Rang und seit bald drei Jahrzehnten Vorkämpferin für eine Mindestsicherung in Italien, hat auf der Tagung in Mailand dem PD unverblümt ins Gewissen geredet, was seine Säumigkeit bei der Armutsbekämpfung angeht. Immerhin ist die Armutsgefährdung eine längst bekannte Problematik, für die in Italien bis auf die Sozialrenten bzw. die Mindestrentenintegrierung noch keine Gegenmaßnahmen ergriffen worden sind.

Dafür wurden bei der missbräuchlichen Inanspruchnahme sozialer Unterstützungsleistungen für bestimmte Kategorien der Bedürftigkeit beide Augen zugedrückt. Eine Flexibilität nach dem Motto des „ arte dell‘arrangiarsi“, die mit der Duldung illegaler Praktiken einhergeht, ist allemal großzügiger als das Welfare-Modell der Flexicurity der nordeuropäischen Staaten und dazu mit einem für die Gemeinsinnentwicklung kontraproduktiven sozialen Lerneffekt verbunden. In Skandinavien sind die Unterstützungsleistungen tief angesetzt und an strikte Auflagen gekoppelt, was die aktive Arbeitssuche angeht. Deren Einhaltung wird von den staatlichen Stellen regelmäßig überprüft. Von wegen soziale Hängematte!

Für die Integration in den Arbeitsmarkt müssen die entsprechenden Dienstleistungen in den Bereichen Arbeitsvermittlung, Berufsorientierung und -beratung, berufliche Weiterbildung erst noch geschaffen bzw. ausgebaut werden. Der geplante Umbau der sozialstaatlichen Leistungen wird noch für heftige Diskusionen sorgen, so vernünftig der Vorschlag sich präsentiert. Aber es ist halt eine Sache, jemanden etwas dazu zu geben, und ganz eine andere, jemanden eine Leistung zu kürzen. Zu beachten ist auch, dass die Einforderung von Auflagen nichts nützt, wenn keine konkreten Beschäftigungschancen in Sicht sind. Vor allem für die Jugendliche, aber auch für ältere Erwerbstätige können hingegen Bildungsmöglichkeiten zumindest eine Grundlage für die Erst- bzw. die Weitervermittlung darstellen.

Wird der Vorschlag umgesetzt, so muss zugleich eine neue Anspruchs- und Verwaltungsethik bei Sozialleistungen durchgesetzt werden. Darin liegt die Chance, auch bei den anderen Sozialleistungen den "andazzo" zu korrigieren und bedarfsgerechte solidarische Leistungen der öffentlichen Hand mit der Entwicklung von Gemeinsinn und Gemeinwohl zu verbinden. Eine epochale Neuorientierung nach Jahrzehnten des Erfolgs degenerativer politischer Umtriebe. Sorgen die technischen Details für Kopfzerbrechen unter den Experten/innen, so kann auf zahlreiche Erfahrungsbeispiele in Europa Bezug genommen werden, wie diese angegangen werden können.