Gesellschaft | Migration

"So löst man keine Probleme"

Die verstärkte Zuwanderung zwingt uns, unsere Regeln neu zu denken, sagt Christoph Baur. Warum sich Bozens Vize-Bürgermeister dabei mehr Zusammenwirken im Land wünscht.
Christoph Baur
Foto: SVP Mediendienst

salto.bz: Herr Baur, die Migration zählt eigentlich nicht zu ihren Kompetenzen und doch scheint der Bozner Vize-Bürgermeister nicht drum herum zu kommen. Wie sehr hält Sie das Thema derzeit auf Trab?
Christoph Baur: Es kommt halt immer wieder auf mich zu. Und immer wieder unter neuen Aspekten.

Zum Beispiel in Form der Schlägerei zwischen Afghanen und Afrikanern auf den Talferwiesen am vergangenen Wochenende. Ihr Parteikollege und ehemalige Stadtviertelrat Kilian Bedin schrieb dazu auf Facebook: „Die Ereignisse am Samstag auf den Talferwiesen haben mit der Stadt Bozen, die ich kenne und in der ich seit 47 Jahre lebe, nichts mehr zu tun!“ Erleben Sie das auch so?
Nein, ich kann das so nicht sagen. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es kaum ein Interesse der Medien gegeben hätte, wenn das Ganze zwischen ein paar Leuten von hier passiert wäre. Tatsache ist aber, dass derzeit eine große Unruhe und Beunruhigung besteht. Und ich glaube, sie besteht auch zu Recht, da wir zunehmend gezwungen sind, uns neu zu erfinden und unsere Regeln neu zu denken und zu leben. Und das ist für niemanden von uns leicht.

Welche Regeln meinen Sie? 
Die Zuwanderung stellt uns vor Fragen, die wir vielleicht vor zehn Jahren ganz anders oder überhaupt nicht gestellt hätten. Nehmen Sie zum Beispiel das Gewaltmonopol des Staates...

... also den Grundsatz, dass die Durchsetzung von Recht dem Staat vorbehalten ist...
Das ist ein Grundpfeiler unserer Zivilisation, der so sehr in unseren Genen drinnen ist, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, eine Pistole zu ziehen, wenn unser Recht verletzt wird. Wir gehen zum Anwalt, der erwirkt ein Urteil und das wird dann von den Polizeibehörde und nicht von uns durchgesetzt. Doch nun sind wir zunehmend mit Zivilisationen konfrontiert, für die das Gewaltmonopol des Staates bei weitem nicht so selbstverständlich ist; dort wird teilweise Gewalt in der Familie gesellschaftlich akzeptiert oder ein Stammesvorsitzender hat beispielweise ganz andere Möglichkeiten, bestimmte Regeln durchzusetzen. Und das ist ein Anlass, auch unsere Regeln neu zu überdenken.

"Wenn ich denke, wie Menschen im Hotel Alpi untergebracht sind, kann man das nicht mit den vielfach positiven Erfahrungen vergleichen, die anderswo in Südtirol gemacht wurden."

Sollen wir sie aufweichen, weil andere Kulturen sie nicht gewohnt sind?
Nein, das auf keinen Fall. Wir sollen und müssen unsere Grundsätze nicht aufgeben. Aber wir müssen sie uns noch einmal stärker ins Bewusstsein rufen und vielleicht gerade beim Thema Gewalt an die veränderte Situation anpassen, indem wir schon früher einschreiten.  Bislang galt zum Beispiel Raufen immer als Kavaliersdelikt, wenn nichts passiert ist. Vielleicht müssen wir da heute früher ansetzten und sagen: Gewalt ist verboten, und wer dagegen verstößt, wird bestraft. Und das muss dann natürlich für alle gelten Denn wenn wir nicht von großen Idealen Abschied nehmen wollen, können wir keine Regeln schaffen, die für die einen gelten und für die anderen nicht.

Doch ist Repression tatsächlich die Antwort, um das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen zu bewältigen?
Natürlich kann es bei weitem nicht die einzige Antwort sein. Wir brauchen eine ganze Reihe von verschiedensten Maßnahmen, um Integration und die damit verbundene Veränderung der Gesellschaft zu bewältigen. Denn diese Integration hat einen wechselseitigen Charakter, auch wir werden uns dabei verändern. Wir ändern uns jetzt schon, in dem Moment, wo wir darüber nachdenken, wie unsere Regeln funktionieren. Wichtig ist, dass wir diese Veränderung gestalten und selbst in der Hand behalten, uns nicht von dem steuern lassen, was andere uns auferlegen. Dafür muss uns aber zuerst einmal bewusst werden, dass wir mitten in einem Änderungsprozess stecken.

Haben Sie das Gefühl, dass die Stadt, die Sie mitregieren, gerüstet ist, um diesen Änderungsprozess aktiv zu gestalten?
Ich glaube, wir sind in einer Lernphase, in der auch die unterschiedlichen Institutionen ihren Platz noch nicht gefunden haben. Wer hat welche Aufgaben, wer stellt welche Mittel... Sicher ist, dass die Gemeinde  Bozen relativ wenige Mittel hat und wir leider auch in einer Zeit leben, in der die Ressourcen der öffentlichen Veraltung zurückgehen und es Verteilungsschwierigkeiten gibt. Da kann es gerade bei Notfällen schon passieren, dass man nicht angemessen reagieren kann.

Bei vielen Maßnahmen sind Sie auf das Land angewiesen. Gerade beim Thema Flüchtlinge haben der Bürgermeister und Sie zuletzt immer offener Kritik geübt. Könnten die ärgsten Spannungen mit der Provinz beseitigt werden, falls es Landeshauptmann Kompatscher nun in Rom gelingt, eine Lösung für Flüchtlinge zu finden, die außerhalb der stattlichen Quote nach Südtirol kommen – und alle in Bozen stranden?  
Die Spannungen entstehen aufgrund der Tatsache, dass generell ein Großteil der Flüchtlinge in Bozen untergebracht ist. Und zwar so untergebracht, dass eine positive Entwicklung oder ihre Annahme von Seiten der Bevölkerung schwer zu erreichen ist. Wenn ich denke, wie Menschen im Hotel Alpi untergebracht sind, wo bis zu 180 Plätze vorgesehen sind. Das kann man nicht mit den vielfach positiven Erfahrungen vergleichen, die anderswo in Südtirol gemacht wurden.

"Man kann nicht immer nur sagen, in Bozen gibt es leerstehende Häuser und da werden die Leute untergebracht und Schluss. Wo ist das Konzept, wie man mittelfristig mit dem Phänomen umgehen will?"

Sie meinen in Dörfern und kleineren Städten?
Überall dort, wo ein Kontakt zur Bevölkerung besteht, wo neben professionellem Personal viele Freiwillige aktiv sind, wo Vorurteile abgebaut und Verständigung aufgebaut werden kann. Ich glaube, es gibt schon genügend Beispiele, wie man durch eine Reihe von gelungenen Maßnahmen erreichen kann, dass diese Menschen nicht mehr als Bedrohung und vielfach auch nicht mehr negativ erlebt werden. Doch das ist in Bozen mit viel zu großen Strukturen und einer schlechten Verteilung schwierig.

Bürgermeister Caramaschi hat sich in dieser Woche auch gegen die Nutzung des Ex-Alimarket-Gebäudes ausgesprochen. Beim Alpini-Treffen habe das Land an jeder Struktur etwas auszusetzen gehabt und für Flüchtlinge soll ein Magazin ausreichen, lautete seine Kritik. Man könnte sich auch fragen, wieso es mehr als drei Monate gebraucht hat, bevor ein Hof in Gries genutzt werden kann, den der Unternehmer Hellmuth Frasnelli schon davor um mehrere 100.000 Euro hergerichtet hat. Haben Sie das verstanden?
Ich kann das auch nicht verstehen, aber wir bekommen dazu auch sehr wenige Informationen. Es ist nicht gut, dass es beim Thema Flüchtlinge so wenig Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land gibt. Genauso wenig wie die Tatsache, dass bei der Verteilung auf andere Strukturen im Land offensichtlich nichts weitergeht, solange wir in Bozen nicht wirklich Widerstand leisten. Es sieht aus, als würden Anliegen nur auf diese Art ernst genommen werden. Das ist nicht besonders schön, eigentlich sollten Institutionen einen verantwortungsvolleren Umgang miteinander haben. Und man muss auch sagen, dass es Schule machen könnte, wenn irgendein Bürgermeister in einem Dorf sagt: Kommt nicht in Frage - und das wird akzeptiert.

Haben Sie in der Stadtregierung eine Zahl an Flüchtlingen definiert, die für Bozen verträglich wäre?
Nein, wir haben nie über Grenzen gesprochen wie in Deutschland oder Österreich. Darauf haben wir ohnehin keinen Einfluss. Am vergangenen Wochenende sind in Sizilien wieder fast 12.000 Flüchtlinge angekommen; zahlenmäßig lässt sich nicht steuern, was auf uns zukommt. Was uns aber wichtig ist: Man kann nicht immer nur sagen, in Bozen gibt es leerstehende Häuser und da werden die Leute untergebracht und Schluss. Wo ist das Konzept, wie man mittelfristig mit dem Phänomen umgehen will?

"Es scheint so zu sein, dass man versucht, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und Lösungen so zu konstruieren, dass sie immer dort abgeladen werden, wo das schwächste Glied steht."

Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem zuständigen Abteilungsdirektor Luca Critelli?
Bisher bestimmt nicht gut. Ich möchte das jetzt nicht zu stark personalisieren, aber es scheint so zu sein, dass man versucht, immer den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen und Lösungen so zu konstruieren, dass sie immer dort abgeladen werden, wo das schwächste Glied steht. An dieser Vorgehensweise dürfte Herr Critelli nicht ganz unschuldig sein, nachdem er an führender Stelle mitbestimmt. Sicher ist in jedem Fall, dass es auf diese Art langfristig nicht gutgehen kann.

Wie könnte es besser gehen? 
Wir müssen eine Ebene finden, auf der man ein Stück weiter denken kann, auf der man sich gemeinsam um nachhaltige Lösungen bemühen kann. Ich verstehe schon auch, dass wir uns in einem Dilemma befinden. Denn wenn unsere Lösungen zu gut sind, werden so viele Menschen kommen, dass sie dann doch nicht mehr gut sein können.

Das scheint ja die Grundüberlegung für alle Entscheidung der  Landesregierung zu sein ...
Genau. Ich kann das auch verstehen, aber dennoch kann Abschrecken allein nicht die Lösung sein. Natürlich können wir auch nicht sagen, kommt alle zu uns, wir können allen helfen. Aber es wird uns nichts anderes überbleiben, als einen würdigen Weg aus diesem Dilemma heraus zu finden. Und zwar ohne unser Kultur, unseren Rechtsstaat und unsere Zivilisation in Frage zu stellen. Eine solche Herausforderung schafft das Land nicht allein, das schafft auch keine Gemeinde und auch nicht das Regierungskommissariat allein. Dafür braucht es ein Zusammenwirken von allen, und das fehlt zurzeit.  Vielleicht fällt mir das besonders auf, weil ich erst so kurz in der Politik bin. Klar ist auf jeden Fall: So löst man keine Probleme, so findet man keine Lösung.