Gesellschaft | Interview

„Zum Tode verzweifelte Situation“

Primar Herbert Heidegger gibt Einblick in die derzeitige Diskussion zur Sterbehilfe. Der Gesetzesvorschlag dazu liegt in Rom zur Abstimmung bereit.
herbert_heidegger.jpg
Foto: Südtiroler Sanitätsbetrieb
Das Lebensende enttabuisieren – dazu will die Stiftung St. Elisabeth in Zusammenarbeit mit dem Landesethikkomitee heute, am Freitag, den 7. Oktober, mit der Tagung „Gemeinsam Sorge tragen – Ethische Fragen am Lebensende“ beitragen. Die Tagung im Bildungshaus Lichtenburg ist seit langem ausgebucht und spricht für die Wichtigkeit des Themas.
 
salto.bz: Herr Heidegger, wieso sprechen Sie bei der Tagung „Gemeinsam Sorge tragen“ zu medikamentös assistiertem Suizid?
 
Herbert Heidegger: Ich wurde als Präsident des Landesethikkomitees eingeladen, um über ethische Überlegungen zum medikamentös assistierten Suizid zu sprechen. Es geht hauptsächlich darum derzeitige Diskussionen im Bereich der Medizinethik aufzuzeigen.
 
 
Seit wann beschäftigen Sie sich mit diesem Thema?
 
Das Landesethikkomitee beschäftigt sich schon sehr lange mit dem Thema Lebensende. 2017 wurde das Gesetz 219 verabschiedet. In diesem Gesetz geht es um verschiedene Themen wie Schmerztherapie, Recht auf Palliativmedizin, die Patientenverfügung, gesundheitliche Vorsorgeplanung und jetzt ist das Thema des medikamentösen assistierten Suizids aktuell, zu dem in Italien ein Gesetzesvorschlag vorliegt, der in der Kammer diskutiert wurde und jetzt in den Senat muss.
Daher ist ein völliges Verbot der Sterbehilfe nicht mit der europäischen Gesetzeslage kompatibel.
Welche ethischen Fragestellungen tauchen bei einem medikamentös assistierten Suizid auf?
 
Aus ethischer Sicht gibt es zwei Argumentationslinien. Zunächst sind Ärzte und Pfleger dem Lebensschutz verpflichtet, gerade bei schwerkranken, verletzlichen Patienten, welche im höchsten Maße auf Fürsorge angewiesen sind. Diese Position vertreten teilweise Ärzteorganisationen und die katholische Kirche. Die zweite Argumentationslinie wäre, dass es ein verfassungsmäßiges Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung des Patienten über seine Behandlung und deren Beendigung gibt. Die Argumentationslinie der Autonomie des Patienten wird durch das Gesetz 219 und die italienische Verfassung gestützt. Auch die Europäische Charta der Grundrechte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befürworten die Selbstbestimmung des Menschen in allen Lebensentscheidungen. Daher ist ein völliges Verbot der Sterbehilfe nicht mit der europäischen Gesetzeslage kompatibel. Jedoch ist der Umfang, in dem Sterbehilfe gewährt wird, den einzelnen Staaten überlassen.
Wie kann dem Betroffenen in seiner existentiellen Krise geholfen werden?
Was sollte bei einem Gesetz zur Sterbehilfe beachtet werden?
 
Bis jetzt liegt ein großer Schwerpunkt der Diskussion auf der Frage der Selbstbestimmung und Autonomie. Ein wichtiger Aspekt hierbei, der leider oft vernachlässigt wird, ist die Relationalität und Verwiesenheit der Menschen aufeinander (relationale Selbstbestimmung). Eine weitere wichtige Frage ist, ob es sich um eine freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung handelt. Es ist wichtig zu betonen, dass der Mensch auch unter Bedingungen von Abhängigkeit oder Hilfsbedürftigkeit selbstbestimmt leben kann. Und ich glaube, ganz wichtig ist, dass er eingebettet bleibt in seiner Biografie. Das heißt, auch wenn jemand sehr alt ist und bestimmte kognitive oder körperliche Einschränkungen hat, muss seine Biografie und seine Würde respektiert werden. Wichtig ist auch die Frage, ob es sich um eine selbstbestimmte Entscheidung handelt. Hier gibt es unscharfe Grenzen, etwa bei psychischen Erkrankungen versus depressive Verstimmtheit. Auch psychisch Erkrankte können einwilligungsfähig sein. Gibt es den frei verantworteten Suizid wirklich? Es ergeben sich auch Fragen: Wie kann der authentische Wille eines Sterbewilligen gefunden werden? Oder wie kann überprüft werden, dass ein geäußerter Sterbewunsch tatsächlich Ausdruck des Sterbewillens ist und sich dahinter nicht andere Mitteilungen verbergen?
 
Wie könnte hier am besten vorgegangen werden?
 
Wir müssen als Gesellschaft sicherstellen, dass auf vulnerable Menschen kein Druck ausgeübt wird oder dass bestimmte Erwartungen des Umfeldes und versteckte Anreize keine Rolle spielen. Die Kernfrage aus ethischer Sicht lautet: Wie kann dem Betroffenen in seiner existentiellen Krise geholfen werden?
 
Was bedeutet Sterbehilfe für das Berufsethos von Ärzt:innen?
 
Es gibt unter Ärzt:innen unterschiedliche Meinungen. Laut Umfragen in Deutschland sind 37 Prozent der Ärzte unter bestimmten Bedingungen bereit Sterbehilfe zu leisten. Es geht z.B. um die Frage: Ist Suizidassistenz mit dem ärztlichen Ethos vereinbar? Deontologische Argumente sind zu berücksichtigen und auch die Frage, welche Konsequenzen dies für die Ärzteschaft (z.B. ein möglicher Vertrauensverlust) hat.
 
 
Welche gesetzlichen Vorgaben zu Sterbehilfe können Italien als Vorbild dienen?
 
Assistierter Suizid wird bereits in einigen Ländern durchgeführt, etwa in Holland (dort auch Tötung auf Verlangen) oder in Oregon in Amerika. In Oregon ist der assistierte Suizid seit 1997 unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Dort kann eine tödliche Dosis von einem Medikament als Rezept verschrieben werden. Wenn man sich die Suizidmotive in Oregon anschaut, ist der Wunsch, die eigenen Todesumstände zu kontrollieren ein entscheidendes Argument. Auch der Verlust von Selbstständigkeit und Würde wurden als Motiv genannt. Interessant ist außerdem, dass dort 40 Prozent der ausgestellten Rezepte nicht eingelöst wurden. Das heißt, sie wurden abgeholt, um sie in einem bestimmten Fall wirklich einlösen zu können. Man möchte sozusagen das Heft in der Hand halten. In Oregon hat man auch gesehen, dass es kaum Störungen der Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient gab, auch zeigte sich die Palliativversorgung verbessert. Eines der Ergebnisse war auch, dass der beste Lebensschutz dann gewährleistet ist, wenn Ärzte Hilfe beim Suizid nicht kategorisch von sich weisen. Mit dem Arzt offen über Suizidbeihilfe sprechen zu können, eröffnet Wege zu professionellem Beistand – und möglicherweise auch zum Weiterleben.
Entscheidungen beim Thema medikamentös assistierter Suizid sind hoch anspruchsvoll.
Wie stehen Sie persönlich zu assistiertem Suizid?
 
Die Leitfrage ist für mich als Arzt, wie ich dem Betroffenen in seiner zum Tode verzweifelten Situation am besten helfen kann. Dabei ist wichtig herauszufinden, ob der assistierte Suizid wirklich die angemessene und beste Form der ärztlichen Hilfe ist. In dieser Thematik ist Verantwortung ein sehr wichtiges Argument. Entscheidungen beim Thema medikamentös assistierter Suizid sind hoch anspruchsvoll. Unser Anspruch muss sein, dass alle Akteure auf den verschiedenen Ebenen in großer Verantwortung handeln. Dabei ist die Verantwortung eine höchst persönliche, es ist aber keine Alleinverantwortung. Sie liegt auch bei professionellen Fachkräften, aber auch beim Staat, der sich konsequent an Zielen der Suizidprävention und einer umfassenden Palliativkultur orientieren muss.
 
In welchen Fällen kann Sterbehilfe sinnvoll sein?
 
Im Gesetzesvorschlag werden folgende Voraussetzungen genannt: Wenn der Patient an einer irreversiblen Krankheit leidet, unerträgliche körperliche oder psychische Leiden erleidet, wenn er nur durch lebenserhaltende Maßnahmen am Leben erhalten wird und wenn er in der Lage ist, frei und bewusst Entscheidungen zu treffen.