Gesellschaft | so weit weg?

Es war einmal… Europa

Ein Bürgerdialog zu den EU-Wahlen weckt kaum Interesse, bietet aber Gelegenheit für das erste Aufeinandertreffen zweier Südtiroler Spitzenkandidaten.
Bürgerdialog Europa
Foto: Facebook

Was wenig greifbar scheint, interessiert auch nicht. Ist das eine Erklärung für die zahlreichen leeren Plätze im Innenhof von Schloss Maretsch? Europe Direct, der Informationsdienst der Abteilung Europa, hat zum Bürgerdialog geladen. Das Thema: “Mein Europa. Meine Zukunft.” Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen vor der Tür. Zum neunten Mal sind die Bürger der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union aufgerufen, ihre Vertreter in das einzige direkt von ihnen gewählte EU-Organ zu bestimmen. 62 Prozent der Wahlberechtigten machten bei den ersten Europawahlen 1979 EU-weit von ihrem Recht Gebrauch – seither sinkt die Wahlbeteiligung. In Südtirol lag sie zuletzt (2014) bei 52,3 Prozent. 2009 – damals fand die EU-Wahl in Italien zum letzten Mal an zwei Tagen statt – waren noch 62,9 Prozent der Wähler hingegangen.

Laut der jüngsten Eurobarometer-Umfrage fühlen sich 71 Prozent der Befragten in den 28 Mitgliedsstaaten als Bürger der Europäischen Union. Doch nur 49 Prozent sind der Meinung, dass ihre Stimme in der EU zählt – erstmals eine Mehrheit seit 2004, immerhin. Um das Vertrauen in die EU ist es im Vorfeld der Europawahlen auch nicht besser bestellt: 42 Prozent geben an, dass sie der EU “eher vertrauen”. In Südtirol sind es 41,1 Prozent. Zum Vergleich: 75,6 Prozent haben “sehr großes” oder “ziemlich großes” Vertrauen in ihre Gemeinde. Beim Land sind es 75,1 Prozent.

Woher kommt dieses geringe Vertrauen in die EU? Woher das marginale Interesse, das sich auch im Schlosshof von Schloss Maretsch am Freitag Abend zeigt? Kaum zwei Dutzend Stühle sind besetzt.

Ist Europa zu fern? Das ist eine Frage, die Esther Happacher in die Runde stellt. Die Professorin für italienisches öffentliches Recht an der Uni Innsbruck moderiert nach einem Impulsreferat des Südtiroler EU-Beamten Markus Warasin – “Wie funktioniert die Wahl und was bewirkt meine Stimme?” – die Podiumsdiskussion, für die “Experten und politische Vertreter” angekündigt sind. Im letzten Moment hat man Renate Holzeisen geladen. Die Bozner Rechtsanwältin ist am selben Tag der Öffentlichkeit als Kandidatin von Team Köllensperger/+Europa präsentiert worden. Die Podiumsdiskussion ist nicht als Wahlveranstaltung angelegt. Weil aber neben Carlo Vettori (Lega) mit dem amtierenden SVP-EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann ein weiterer Südtiroler Spitzenkandidat für den 26. Mai am Podium sitzt, bietet sich schließlich die Gelegenheit für einen ersten Schlagabtausch zwischen den beiden Kontrahenten.

 

Gefühl oder Realität?

Allzu häufig habe er das Gefühl, die EU-Abgeordneten würden als “Aliens, die Politik machen” wahrgenommen werden, antwortet Herbert Dorfmann auf Happachers Frage nach der Entfremdung bzw. Entfernung zwischen Bürgern und Union. “Warum gelingt es nicht, Europapolitik mehr sexy zu machen?” Auf seine Frage gibt Dorfmann mehrere Antworten. Eine Ursache für das Desinteresse an der EU sieht er darin, dass es auf EU-Ebene keine gemeinsame Presse und somit “keine gemeinsame öffentliche Meinung” gebe. “Die Berichterstattung der Medien findet immer durch die nationale Linse statt, die Brüsseler Sichtweise der Dinge gibt es nicht.” Zum anderen sei die EU-Politik wenig personifiziert und die Union insgesamt ein “kompliziertes Konstrukt”, das den Dialog mit den Bürgern erschwere.

“Es ist eine irrige Meinung zu glauben, die EU geht uns nichts an.” (Renate Holzeisen)

Dass es “ein Manko an Information” gebe, darin gibt Renate Holzeisen Dorfmann recht. Davon abgesehen aber sieht sie auf EU-Ebene sehr wohl eine “starke Personifizierung”: Die Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission und die Regierungschefs der Mitgliedsländer – allen voran Frankreichs und Deutschlands – drängten sich in den Vordergrund. “Mit der Folge, dass in der Wahrnehmung der Bürger das Europäische Parlament selbst keine Entscheidungsmacht hat.”

Etwas anderes wird von den Bürgern nicht nur wahrgenommen, sondern ist tatsächlich Realität, wie Dorfmann konstatiert: “Es fehlt massiv an Solidarität und Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedsstaaten.” Aber nicht nur in der Migration, sondern etwa auch in Steuerfragen, wirft Holzeisen ein. Sie plädiert dafür, Steuerschlupflöcher zu schließen – “Steuern müssen dem Mitgliedsland zugute kommen, in dem die Einnahmen erzielt werden” –, mehr Transparenz in wirtschaftspolitischen Themen walten zu lassen und der “Geldwäsche-Industrie” den Hahn abzudrehen. Dadurch würde nicht nur mehr Gerechtigkeit geschaffen werden, sondern auch das Ansehen der EU steigen, ist sich Holzeisen sicher.

 

Unbequeme Schuldfrage

Zum Stichwort Gerechtigkeit gibt es gegen Ende der Diskussion einen Moment, in dem es zwischen den beiden etwas lauter wird. Dorfmann bringt erneut das Thema Migration auf den Tisch, was Renate Holzeisen dazu bringt, ihrem Ärger Luft zu machen. Die Politik der EU in Sachen Migration sei abhängig von Wirtschafts- und Finanzinteressen, kritisiert die Anwältin. Sie sieht “ein skandalöses Vakuum auf der Ebene der europäischen Politik”: “Man spricht nur über Verteilung und Verteidigung. Dabei sollte die EU die Verursacher in Afrika ausmachen. Landgrabbing, durch das den Kleinbauern die Lebensgrundlage genommen wird, findet dort nämlich auch mit EU-Stempel statt. Ich vermisse massiv eine Auseinandersetzung mit den Ursachen der Migration – und die Konsequenz ist der Rechtsruck.”

“Die Medien müssten die Stiefmütterlichkeit aufgeben, mit der sie das Thema Europa behandeln.” (Herbert Dorfmann)

Harter Einspruch von Herbert Dorfmann. Afrika sei differenziert zu betrachten, es gebe durchaus “einige vorbildhafte Demokratien”, die nicht zuletzt dank Unterstützung durch die EU aufgebaut worden seien. Und wenn es nicht überall gelungen sei, dann seien daran nicht die Europäer Schuld – nach dem Motto: “Jeder ist seines Glückes Schmied.” Denn wenn Landgrabbing als Ursache für die Migration geschehe, dann weil die afrikanischen Regierungen das zuließen, so Dorfmann, der im Übrigen auch nicht die Europäer als Verursacher sieht. Vielmehr seien es die Chinesen als die sich ungehindert Land aneignen. Irgendwann habe er einfach “keine Lust mehr zu sagen, ‘die Europäer sind für alles verantwortlich’”, meint Dorfmann.

Und so geht ein Abend zu Ende, nach dem die Frage bleibt: Wie kann Europa die Distanz zu den Bürgern verkürzen, deren Vertrauen in die Institutionen stärken, in einen Dialog treten? Indem es kontinuierlich erzählt wird, wie es Martha Gärber von Europe Direct macht? Zumindest am Freitag scheint das Rezept nicht aufgegangen zu sein. Vielleicht braucht es neben solchen Abenden noch etwas anderes. Darauf weist Landeshauptmann Arno Kompatscher in seinen Grußworten am Freitag hin. Zum einen das Bewusstsein dafür, dass Europa ein “alternativloser Gegenentwurf” zu Nationalismus sei, der “konsequent zu Ende gedacht immer zu Krieg führt, während uns die Überwindung des nationalistischen Denkens 70 Jahre Frieden, Wohlstand und Sicherheit gebracht hat”. Und: “Europa braucht Herz.”

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Roland Pliger Mo., 08.04.2019 - 17:22

Nur nochmal in Erinnerung zu rufen: der Südtiroler Koalitionspartner der SVP verbündet sich auf europäischer Ebene mit der deutschen AfD!
So sehr ich mir auch wünsche, dass die SVP eine proeuropäische Partei wäre, ich kann es unter diesen Vorzeichen einfach nicht mehr glauben! Natürlich ist Provinzialpolitik nicht mit Europapolitik vergleichbar, und dennoch scheint mir der ideologische Graben, der sich da auftut, schier unüberwindbar um weiterhin glaubhaft zu machen, dass die SVP einerseits für Europa kämpft und gleichzeitig den übelsten Nationalpatrioten im Südtiroler Landtag die Bühne bietet. Europa kann es sich nicht leisten, dass eine Region, die so dermaßen von der europäischen Integration profitiert hat, auf lokaler Ebene und in der Praxis genau das Gegenteil von dem tut, was sie theoretisch von sich behauptet. Quo vadis?

https://www.welt.de/politik/ausland/article191527471/Europawahl-2019-Af…

Mo., 08.04.2019 - 17:22 Permalink
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Hartmuth Staffler Mo., 08.04.2019 - 18:23

Der europäische Koalitionspartner der SVP bewundert Mussolini (Tajani) und verbündet sich mit den italienischen Ultrarechten. Die SVP ist nur am augenblicklichen Erfolg orientiert, sie schmeißt wesentliche Erungenschaften der Südtirol-Autonomie über Bord und sich den italienischen Rechten an den Hals, die der Untergang Südtirols sind.

Mo., 08.04.2019 - 18:23 Permalink