Die Gärten der Finzi - Teil 2
Sie stellt sich vor, wie der 20-jährige Enrico im Jahr 1944 in Sassari Regie führt bei den moti del pane – den Brotunruhen,- Protestdemonstrationen der hungernden Bevölkerung. Sie selbst – gleichaltrig- im KZ, zu Untätigkeit verdammt, verhungernd auch, wenn nicht…Der junge Berlinguer mit Haaren schwarz wie die Nacht, der Rädelsführer, der aufmüpfige, taumelnd vor Zorn und Lust in den schwarzen Nächten von Sassari. Eingesperrt wird er für 100 Tage, der gefährliche Leninist, hat sich die Sporen geholt beim Organisieren des Aufstands, hat gelernt daraus. Hat das Kapital von Marx gelesen im Gefängnis.
Solche Lektüren bei derartigen Aufenthalten sind von sehr unterschiedlicher Nützlichkeit, wie wir wissen, sagt sich Micòl.
Hat gelernt, den Dialog nicht abreißen zu lassen, mit niemand, offen zu sein und es zu zeigen, hat nicht das Parteichinesisch gesprochen, sondern das Italienisch der lavoratori, lebte spartanisch und arbeitete hart, hatte einen culo di ferro bei Sitzungen, Sitzfleisch und liebt das Meer.
Der compromesso storico war bloß ein Wort. Eine federleichte Wortkombination, nichtssagend und tragisch, evviva la lingua italiana, das dachte Micòl.
Ist ein Mann, der vom Meer kommt, sagt sich Micòl Finzi Contini, das ist besser als jeder compromesso, den ein Mann schließen kann, aber zweischneidig doch. Ruba, chi viene dal mare, die Angst der Inselbewohner vor denen, die landen und stranden, Hunderte von Torri costiere haben sie gebaut, um sich zu schützen, solches ist prägend für Männer, die von den Inseln kommen. Die Angst sitzt im Nacken. Denn die Inseln wollen immer auch untergehen. Ist ein Mann, der vom Meer kommt, der die Boote liebt, der hinausfährt, sich tragen und wiegen lässt vom Meerwind, auch vom Sturm, einer, der hinausfährt, um wieder zu kommen, und draußen hat er sich in der Geduld geübt. Das Meer ist noch immer eine Männerdomäne, wo Männer sich in Gelassenheit üben. Micòl Finzi Contini hat dagegen nichts einzuwenden.
Moskau bleibt ihr seltsam fremd. Sie will nichts sehen, nichts hören. Ist wie gelähmt. Liegt den größten Teil der Zeit auf ihrem Bett im Hotelzimmer. Dann reist die Gruppe mit dem Nachtzug nach Leningrad. Micòl Finzi Contini sieht die Menschenmassen auf dem Bahnhof lagern. Sie haben sich eingerichtet auf lange Wartezeiten, liegen auf dem Boden auf mitgebrachten Decken. Micòl schaut in ihre blassen schemenhaften Gesichter, sie weichen ihrem Blick aus, einer heftet sich an ihre Fersen, sie hört ihn schnuppern, er will riechen, wie sie riechen, die Leute aus dem Westen. Der russische Reiseleiter drängt ihn brutal zur Seite, treibt seine Gruppe an, dawai, dawai. Was will er denn verbergen? Was gilt es zu vertuschen?
Der Zug ist ein Orientexpress mit vergoldeten Wasserhähnen, plüschverkleidet die Abteile, der Service vergleichbar mit dem eines Grandhotels. Sobald er pünktlich auf die Minute den Moskauer Bahnhof verlässt, beginnt der eine erste Satz der Sinfonie „An den Oktober“ von Schostakowitsch. Er quillt aus den Lautsprechern, irreal und deutlich, schwillt an und verebbt. Micól Finzi Contini hält sich anfangs die Ohren zu. Aber dann ist sie bereit zu hören. Der Zug fährt in die Nacht hinein. Kerzengerade steht sie am verschlossenen Fenster, bis der Schlusschor beginnt. Sie weint. Hymnen an das Regime zu schreiben, von der Passion besessen, welche Höllen haben wir uns ausgedacht? Micòl Finzi Contini wendet sich an ihren fiktiven Gesprächspartner, der sie begleitet, seit sie zurückgekehrt ist aus dem KZ. Sie spricht nicht oft mit ihm. Und dreht sich langsam im Tanz zum imaginierten Walzer Nr. 2 von Dimitri Schostakowitsch.
Micòl liebt Leningrad vom ersten Augenblick an. Und übergibt sich jeden Tag. Sie verträgt das Essen nicht, das die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu bieten hat. Fettreiches, dickflüssiges Joghurt am Morgen, dazu grüne Erbsen. Schweinefleisch zu Mittag. Sie ernährt sich von Tschai und ungesalzenem Brot.
Sie besichtigt zusammen mit ihrer Reisegruppe Betriebe, eine Textilfabrik und einen Glühbirnenhersteller. Der Reiseleiter übersetzt die statements der Arbeiter, Brigadeführer, freigestellt und abkommandiert, um das Loblied auf die große Arbeiterrepublik herunterzurasseln. Vom Plansoll, das erfüllt wird und von den Auszeichnungen für solidarische Genossen redet er. Micòl ist zunächst irritiert, dann angewidert. Es ist reine Propaganda, die sie präsentiert bekommen. Auch die Stimmung unter den italienischen Gewerkschaftern, Sozialisten oder Sozialdemokraten wird zusehends schlechter. Missmut und Enttäuschung stehen in ihren Gesichtern, wenn sie sich unbeobachtet glauben, sobald sie vor Auslagen von Fleischereien stehen, in denen, ausgenommen Konservendosen, nichts zur Schau gestellt ist. Im Geschäft werden Innereien verkauft und fette Wurst. Doch in den Berjoska Läden gibt es für Devisen fast alles zu kaufen , was das Herz begehrt. Im Besitz von Devisen, heiß begehrt sind Dollars, sind vor allem Ausländer und Parteibonzen. Berjoska bedeutet Birklein, eine sehr lyrische Bezeichnung für Ausgrenzung. Das staatliche Kaufhaus GUM ist schlecht ausgestattet. Micòl sieht an den Mienen der Mitreisenden, dass sie an die heimische „Rinascente“ denken, eine Kaufhauskette für das Volk, aber hübsche Sachen gibt es da für das Volk. Micòl versucht mit den Menschen auf der Straße oder mit dem Hotelpersonal ins Gespräch zu kommen. Es scheitert meistens an den Sprachschwierigkeiten, aber auch an der Scheu der Leute. Sie hat Nylons mitgenommen auf Anraten von Bekannten, schenkt sie den Zimmermädchen und schämt sich, wenn die ihr ein Aufleuchten der Augen schenken.
Mit einer Tupolew voller technischer Mängel fliegt die Reisegruppe nach Sibirien. Das Auslassventil ist offenbar defekt. Die Passagiere leiden unter heftigen Ohrenschmerzen. Die Tupolew trudelt häufig im Fünfhundertmeterabstand zu den Bäumen dahin . Die italienische Reisegruppe bekommt von der Taiga mehr zu sehen als ihr lieb und recht sein kann. Schließlich landen sie dann doch heil in Irkutsk.
Was Micòl Finzi Contini in den Orten rund um den Baikalsee sieht, wird sie nicht mehr vergessen. Es sind die Kinder, die sich in ihr Herz brennen. Bei allergrößter Armut, Armut in den Augen wohlsituierter Westeuropäer, wahrgenommen als Nichtbesitz von Konsumgütern, - die Kinder in den Dörfern und Städten strahlen. Sie sind der Stolz ihrer Eltern, das Wertvollste, das sie besitzen. Und wenn sie gar nichts besitzen, dann bekommt das Mädchen eine riesengroße Schleife ins Haar geflochten. Micòl erinnert die kleinen Mädchen wie riesige Ostereier, bunt und fröhlich und glücklich. Viele Menschen leben noch in alten sibirischen Holzhäusern, deren Fenster- und Türrahmen kunstvoll geschnitzt sind, wo aber auch der sibirische Wind durchzieht. Es war Mai.
An Stelle von Lebensmittelgeschäften sahen die italienischen Touristen Kioske aus Holz, manchmal war nur eine einzige grüne Gurke ausgestellt und ein paar dubiose Konserven. Sie sahen aber auch, dass vor jedem Holzhäuschen ein kleiner Garten angelegt war, den die Menschen in diesem warmen Mai schon bestellten. Micòl und wohl auch die anderen Reisenden dachten, dass der real existierende Kommunismus dort am besten funktionierte, wo die Bonzen nicht in Reichweite waren. Bratsk und Irkutsk und der Baikalsee und der große russische Wald waren solche Orte. Micòl hoffte, dass sie sich nicht täuschte.
Teil 3 hier demnächst auf salto.bz
Wunderschön die Sprache -
Wunderschön die Sprache - eine Reise zwischen den Kulturen, so sollte Sprache verstanden werden, denn: so viele Sprachen Du sprichst, so oft bist Du Mensch.