Gesellschaft | Essstörungen

"Wie geht es dir?"

Essstörungen sind häufig ein Tabu. Betroffene outen sich oft erst nach jahrelangem Leiden. Und werden immer jünger. Ein Gespräch mit Raffaela Vanzetta.

Michela Marzano hat selbst an Magersucht gelitten. Nun hat die Abgeordnete des PD zusammen mit anderen Parlamentarierinnen dem römischen Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der eine Strafe zur "Anstiftung zur Magersucht" vorsieht. Hohe Geld- und Gefägnisstrafen sollen Personen davon abhalten, im Internet den Schlankheitswahn zu verherrlichen, dem vor allem ganz junge Mädchen oft schutzlos ausgeliefert sind.

Salto.bz hat mit Raffaela Vanzetta von INFES über die Situation in Südtirol gesprochen.

Frau Vanzetta, wer wendet sich an Sie und die INFES?
Raffaela Vanzetta: 95 Prozent jener, die Hilfe bei uns suchen, sind Mädchen. Dieses Verhältnis ist über die letzten Jahre hinweg eigentlich konstant geblieben. Auch weil Männer tendenziell weniger Hilfe suchen, aber auch weniger häufig an Essstörungen erkranken und diese in den meisten Fällen nicht lebensbedrohlich sind. In den Medien wird oft berichtet, dass immer mehr Männer an Essstörungen wie Magersucht leiden. Diese Beobachtung habe ich nicht gemacht.

Wie alt sind die Betroffenen, die zu INFES kommen?
Auch das Durchschnittsalter ist konstant geblieben, wobei ich heute mit immer jüngeren Mädchen zu tun habe. Und gleichzeitig kommen vermehrt ältere Frauen zu uns.

Können Sie das etwas ausführen?
Es sind viele Frauen über 40, die mitten im Leben stehen und plötzlich das Gefühl haben, schlank sein zu müssen, abzunehmen, ihr Leben unter Kontrolle kriegen zu müssen. Häufig sind es dann die Partner, die sich an uns wenden, weil sie merken, dass das Zusammenleben mühsam, fast unmöglich geworden ist.

Und die Jüngeren?
Speziell wegen Magersucht sind früher 15-, 16-, 17jährige zu uns gekommen. Heute passiert es immer öfter, dass 13- oder gar 12jährige an Magersucht leiden und Hilfe suchen.

Wenden sich die Betroffenen selbst an Sie?
Die ganz jungen Mädchen kommen selten allein. Manchmal kommen zuerst nur die Eltern, weil sie merken, sie können ihrer Tochter nicht die Hilfe bieten, die sie nötig hätte. Oder es kommen andere Menschen aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis, die mit den Betroffenen in Kontakt stehen und sehen, dass etwas nicht stimmt. Und denen bieten wir Hilfe an, einen Weg zu finden.

Wie gehen Sie vor, wenn es zu einem Gespräch mit den Betroffenen kommt?
Die INFES bietet Zwischenlösungen an. Wir arbeiten eng mit den Sanitätsbetrieben der jeweiligen Bezirke zusammen, und informieren die Mädchen über die Therapiemöglichkeiten. Viele jedoch wollen keine Behandlung beginnen, haben Angst davor oder sind unsicher. Wir üben keinen Druck aus, sondern versuchen über Zwischenschritte – wie etwa ein Gespräch mit unserer Ernährungsberaterin – die Motivation der Person zu fördern. Denn wenn die Betroffenen nicht von der Therapie überzeugt sind, wird sie kaum Erfolg haben.

Und darüber hinaus?
Wir organisieren Gruppentreffen, wo sich Betroffene austauschen können. Das wird in den Krankenhäusern, wo die eigentliche Therapie stattfindet, nicht gemacht. Zusätzlich bieten wir Familienbetreuungen an.

Können Sie Zahlen nennen, wie viele Menschen in Südtirol von Essstörungen betroffen sind?
Insgesamt werden derzeit ungefähr 500 Personen südtirolweit wegen Essstörung behandelt. Es gibt Statistiken von den  Sanitätsbetrieben, wo jene Personen erfasst werden, die eine Therapie beginnen. Dabei wird die Diagnose, sowie das Geschlecht, Alter und der Beginn der Therapie festgehalten. Zahlen sagen meiner Meinung aber wenig aus, weil sich viele Betroffene entweder überhaupt nicht oder erst nach vielen Jahren “outen”. Erst vor Kurzem habe ich eine Frau getroffen, die nach 35 Jahren, in denen sie an Bulimie gelitten hat, zum ersten Mal Hilfe gesucht hat. Mit über 50. Die Dunkelziffer ist also viel höher als die offiziellen Zahlen.

Welche Essstörungen gibt es?
Eingeteilt werden die Essstörungen in Magersucht, Bulimie und Esssucht. Prävalenzstudien haben ergeben, dass 11 Prozent der Frauen in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken. 0,1 bis 0,3 Prozent davon an Magersucht, 0,3 bis 0,5 Prozent an Bulimie. Bei der Esssucht ist es schwieriger, abzuschätzen, wie viele Menschen betroffen sind, weil die Betroffenen selbst oft nicht merken, dass sie an einer Essstörung leiden. Daneben gibt es Mischformen und so genannte "latente Essstörungen", die weniger ausgeprägt sind, aber trotzdem eine Krankheitsform darstellen.

Welcher der drei Störungen begegnen Sie am häufigsten?
Es sind diese weniger ausgeprägten Formen der Essstörung, mit denen viele zu uns kommen. Ein Kennzeichen der Magersucht etwa ist, dass die Mädchen immer mehr an Gewicht verlieren. Bei einer "latenten Essstörung" wird mit viel Mühe und Kraft ein Untergewicht gehalten, das Gewicht fällt aber nicht weiter. Was in den letzten Jahren auch zugenommen hat sind die Fälle von "Bigorexia". Junge Männer, die krankhaft ins Fitnesscenter gehen, um Muskeln aufzubauen. Eine Mutter ist zu mir gekommen, deren Sohn an dieser Form der Körperwahrnehmungsstörung leidet. Sie hatte ihm die Hanteln weggenommen und im Müll entsorgt. Der Sohn hat sich dann über Internet neue Hanteln bestellt und sie hörte Tag für Tag, wie er in seinem Zimmer stundenlang am Trainieren war.

Was können Eltern oder Freunde tun, wenn sie merken, der Sohn, die Tochter bzw. der Freund, die Freundin leidet?
Es hilft oft schon sehr, wenn einfach nachgefragt wird: "Wie geht es dir?" Auch wenn die Person beim ersten oder auch beim zweiten Mal beteuert, es sei alles in Ordnung, beim dritten Mal beginnt sie vielleicht, sich zu öffnen und zu erzählen. An Essstörungen Leidende haben meist ein ganz starkes Bedürfnis nach Anerkennung und wenn sie spüren, jemand interessiert sich für sie, finden sie auch den Mut, sich anzuvertrauen.