Wo ist der Feuerlöscher?
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„Tourismus ist wie Feuer. Du kannst damit deine Suppe kochen, aber auch dein Haus abbrennen.“ Diesen Aphorismus fand ich in einem der vielen Aufsätze und Fachbücher, die ich Ende der 1990er zu lesen hatte. Damals war ich in der Arbeitsgruppe (mit dem Architekten Franco Didoné, dem Grafiker und Gestalter Uli Prugger sowie dem Ethnologen und späteren Direktor des Touriseums Paul Rösch), die in Meran das Touriseum entwickelte. Ich legte den Satz zu meinen Notizen – und vergaß ihn unter all den Themen, die sich für ein Südtiroler Landesmuseum für Tourismus aufdrängten.
Das Museum erzählt, wie der Tourismus vor 200 Jahren nach Tirol kam, wie er mit der Zeit sich selbst, die Landschaft und ihre Menschen veränderte, wie er Wohlstand (seltener Wohlbefinden) brachte – eben auch von der Suppe. Doch wir planten es in einer Phase, in der eine explizite Warnung vor der auch destruktiven Kraft des Feuers nicht mehr notwendig schien. So haben wir den Aphorismus, als er wieder zum Vorschein kam, lediglich auf ein kleines Blatt Papier gedruckt und als Bonmot im Bürotrakt des Museums aufgehängt, wo ihn aber nur die Belegschaft zu sehen bekommt.
Inzwischen wünschte ich mir, wir hätten das Gleichnis vom Feuer an einer zentralen Stelle in Szene gesetzt – dort, wo alle Besucherinnen und Besucher vorbeikommen. Damit sie darüber reflektierten, wann das Feuer so groß wird, dass es vom Herd aufs Haus überspringt. Und wo der Feuerlöscher hängt.
Meine Generation ist mit der Ausbreitung einer neuen Variante des Tourismus groß geworden, mit dem sogenannten Tourismus der Massen. Ab den Sechzigerjahren fielen die „Fremden“ gewissermaßen bei der Tür herein. 1960 meldete meine Heimatgemeinde Tirol 72.000 Nächtigungen, nur zehn Jahre später siebenmal so viel. In Schenna schnellten die Zahlen im selben Zeitraum von 7.000 auf 365.000, in Kastelruth von 106.000 auf 670.000. In einem ähnlichen Verhältnis nahm die Zahl derer zu, die den Tourismus als neues Betätigungsfeld entdeckten. Zwischen 1960 und 1970 stiegen Tausende in die Vermietung von Fremdenzimmern ein. Und danach ging es erst richtig los. Zwar gab es bereits erste Warnungen vor den Gefahren eines „ungesteuerten und ungehemmten Verbauens“ – nicht etwa von einem Naturschutzblatt, sondern von der Südtiroler Wirtschaftszeitung (SWZ). Aber das Umfeld war zu verlockend.
Die Baubestimmungen waren großmaschig und Kredite günstig, die Inflation war höher als die Zinsen, sodass sich Schulden scheinbar von selbst tilgten und „man einen Hotelbau in fünf Jahren abzahlen konnte“ (die SWZ im Rückblick). Zudem verlor die Lira im Vergleich zu D-Mark und Schilling laufend an Wert, weshalb Südtirol für Gäste aus dem Norden trotz steigender Preise sagenhaft günstig blieb, während Italiener im Land bleiben mussten, weil Reisen ins Ausland zu teuer wurden. Es war diese Melange, die die folgende Goldgräberstimmung auslöste.
„Viel weiter nach oben dürfte es nicht mehr gehen“, prophezeiten wir auf einer Fachtagung, auf der wir das Touriseum vorstellten. Wie falsch die Prognosen waren, zeigte sich bald.
Im scheinbar grenzenlosen Wachstum schien sich jede Investition in den Fremdenverkehr umgehend zu rentieren. Törggelestuben, Ausflugslokale, Frühstückspensionen, Hotels – die Aussicht auf sicheren und schnellen Ertrag ließ immer neue Bauten entstehen. Skigebiete wurden erweitert oder neu in die Berge gesetzt, die Förderleistung ihrer Aufstiegsanlagen verdoppelte sich alle paar Jahre. Straßen wurden verbreitert oder neu in die Landschaft geschlagen. Scheunen verwandelten sich in Pensionen, Bauernhäuser in Hotels. Bettenburgen im alpenländischen Einheitsstil mit wuchtigen Holzbalkonen und schwerem Getäfel wurden zu einem Symbol für diese Fortschrittsjahre. Allein zwischen 1970 und 1980 vermehrten sich die Beherbergungsbetriebe von 2.700 auf 4.700, die Zahl der sogenannten Privatquartiere schnellte auf über 10.000.
Unter den Veränderungen, die der eindringende Tourismus bei den Einheimischen auslöste, stachen zwei heraus. Viele der Kleinhäusler und Bauersleute, die sich mit einigen wenigen Fremdenzimmern oder kleinen Gastlokalen begnügten, empfingen ihre Gästen mit serviler Unterwürfigkeit, die man als von Herzen kommende Gastfreundschaft interpretierte. Und viele von denen, die groß in Hotelbauten investierten (in den meisten Fällen wieder Bauersleute, denn nur sie besaßen Baugrund) hängten sich eine stolze Selbstgefälligkeit um. Gestern nur Bauer, heute Hotelbesitzer.
Eine Erinnerung an die spätere Jugend: In einer Diskothek in Schenna reichen sich die Kinder neureicher Hoteliers das Feuer für die Zigarette mit brennenden Lira-Scheinen weiter. Man hat genug davon in der Tasche. Felix Mitterers Piefke-Saga, die der ORF erstmals 1991 ausstrahlte, hätte auch im Südtirol der späten 1970er spielen können. Der Historiker Hans Heiss schrieb in einem der Konzepte für das Touriseum: „Ohne Umschweife ist festzuhalten: Diese Phase trieb viele Menschen durch die Aussicht auf schnell- (nicht leichtverdientes) Geld und durch die Verschiebung sämtlicher Maßstäbe in eine tourismusspezifische Form des Wahnsinns.“
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Zum Autor
Josef Rohrer war Redakteur beim Wochenmagazin ff, ehe er als Kurator von Museen und Ausstellungen arbeitete. Neben dem Touriseum in Meran hat er unter anderem das Museum Passeier mit den Dauerausstellungen über Andreas Hofer und den Heldenkult mitgestaltet.
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1979, als diese Phase auf ihren Höhepunkt zusteuerte, waren die Warnungen nicht mehr zu überhören. Der deutsche Reisekonzern TUI hatte mit seinen Vorgängerfirmen über die Jahre tausende Gäste nach Südtirol gebracht. Nun kritisierte ausgerechnet der damalige TUI-Direktor auf einer Tagung der Verkehrsvereine in Bozen die „ungehemmte Bauwut“. Und er traf eine Feststellung, die heute wieder aktuell klingt: „Es wächst bei den Menschen die Abneigung gegen den Gast, es wächst bei den Einheimischen die Meinung, als fünftes Rad am Wagen zu gelten, die Ökologie schlägt um in eine unaufhaltsam in den Abgrund führende Form der Landschaftszerstörung.“
Und ausgerechnet die Parteizeitung der seit 1945 ununterbrochen regierenden SVP kritisierte „die Mächtigen in unserem Lande“, weil sie nichts gegen die „Raubritter“ unternähmen, die die Landschaft zerstörten. „Die Zahl der Tiroler, deren einziger Gott der Wohlstand ist und für die nur mehr das Wort Fremdenverkehr großgeschrieben wird, nimmt in beängstigendem Ausmaß zu.“ Und so mancher, der am Andreas-Hofer-Tag strammstehe, „vergißt beim Anblick einer dicken Brieftasche Volk und Vaterland“ (Volksbote). Wer nicht oder nicht direkt vom Tourismusboom profitierte, fühlte sich ob der vielen Touristen und der Arroganz so mancher Touristiker im eigenen Land nicht mehr daheim. Ebenfalls 1979 sah sich Franz Spögler, der damalige Landesrat für Tourismus, veranlasst, ein Referat vor der Generalversammlung des HGV mit „Die Südtiroler Fremdenverkehrswirtschaft im Kreuzfeuer der Kritik“ zu übertiteln.
Es brannte das Haus. Doch der Versuch, das Feuer zu löschen, fachte es erst einmal weiter an. 1980 setzte der für die Raumordnung zuständige Landesrat Alfons Benedikter ein erstes Landesentwicklungsprogramm (LEP) durch, das für eine Weile keine weiteren Straßen, Aufstiegsanlagen, Gastbetriebe zulassen sollte – und weitere Betten nur in Orten, an denen der Tourismusboom vorbeigegangen war. Selbst Wirtschaftskreise erkannten, dass „drastische Mittel notwendig sind, um die Entwicklung zu bremsen. Denn dass wir an unserer Natur, dem Menschenpotential und den Finanzmitteln Raubbau betrieben haben“, sei leider eine Tatsache (SWZ).
Unglücklicherweise sah das Begleitgesetz des LEP vor, dass alle Bauprojekte, die bis zu einem Stichtag (6. November 1981) begonnen wurden, noch ausgeführt werden durften. Also ließen viele in Torschlusspanik noch rasch eine Grube ausheben oder ein Fundament gießen, um dem angekündigten Baustopp zuvorzukommen. Anstatt zu bremsen, brachte das LEP erst einmal eine weitere Beschleunigung. Fast gleichzeitig änderte die Banca d’Italia ihre Geldpolitik und hob die Kreditzinsen an, deutlich über die Inflation. Ebenfalls fast gleichzeitig trat in einigen Ländern Europas eine Wirtschaftskrise ein, Deutschland spürte sie besonders. Zum ersten Mal seit langem sank in Südtirol die Zahl der Nächtigungen.
Südtirols leichte Erreichbarkeit ist Stärke und Fluch zugleich.
Das Zusammenwirken dieser Faktoren löste eine Schockwelle aus. Im Schnalstal nahm sich Leo Gurschler wegen der immensen Kreditlast auf seinem Kurzras-Projekt das Leben. Dutzende hoffnungslos überschuldete Hotels gingen wegen der erhöhten Zinsen in Konkurs und kamen unter Zwangsversteigerung. Die Landesregierung konnte mit einer Finanzspritze zwar an die 80 Betriebe vor der Pleite retten. Die Hilfen aus Steuergeldern für diese angeblich „unverschuldet Verschuldeten“ verstärkten unter den Einheimischen aber jene „Fremdenverkehrsfeindlichkeit“ (Franz Spögler), die in den wilden Siebzigern entstanden war.
Erst nach diesen turbulenten Pleitejahren trat jene Beruhigung ein, die das Ziel des LEP gewesen war. Der Bestand an Betten und der Zustrom an Gästen stagnierte, wozu auch ein geändertes Reiseverhalten beitrug. Die ultratreuen Stammgäste, die 20-, 30-mal in Folge ihren Jahresurlaub in Südtirol verbracht hatten, starben aus, die nachfolgenden Generationen wollten auch Neues erleben. Südtirol wurde mehr und mehr zur Destination für den Zweit- oder Dritturlaub, mit entsprechend reduzierter Aufenthaltsdauer.
Der Brand war fürs Erste gelöscht und das Feuer in den Herd zurückgedrängt. 1990, nach dem Ende der krisenhaften Achtzigerjahre, wurden 23,2 Millionen Übernachtungen registriert, am Ende der Neunzigerjahre waren es nur unmerklich mehr. Die Zahl der Fremdenbetten sank sogar. Hinter diesem (vorübergehenden) Schrumpfen stand ein tiefgreifender Prozess. Viele Gastgeber der Gründergeneration waren in die Jahre gekommen und gaben auf: weil ihre Kinder genug von den Hausgästen hatten und lieber in ihrem inzwischen erlernten Beruf blieben; weil ihre Häuser größere Investitionen gebraucht hätten, um den steigenden Ansprüchen der Gäste zu genügen. Beinahe jede dritte Familie, die Privatquartiere vermietet oder eine einfache Frühstückspension betrieben hatte, zog sich in den Neunzigern aus der Tourismusbranche zurück – ein Trend, der auch später noch anhielt.
Zugleich führte die Branche ein Upgrade durch. Jene Kinder aus der Gründergeneration, die im Gastgewerbe eine Fachausbildung absolviert und den elterlichen Betrieb übernommen hatten, hoben ihn nach Möglichkeit in eine höhere Kategorie: Wenn schon Gastgewerbe, dann richtig. Dazu ermuntert wurden sie auch von den inzwischen eingeräumten Möglichkeiten der „qualitativen Erweiterung“. Es konnte wieder investiert werden: in geräumigere Zimmer, größere Speisesäle, in Fitness- und Wellness-Anlagen. So sank in den Neunzigerjahren die Zahl der Betten in einfachen Frühstückspensionen und Privatquartieren von 151.000 auf 91.000 – ein Minus von 60.000. Zur gleichen Zeit stieg die Bettenkapazität in Häusern mit drei und mehr Sternen von 47.000 auf 77.000. Das Angebot verlagerte sich von kleinen Pensionen mit Familienanschluss hin zum größeren, professionell geführten Hotel mit hohem Personalbedarf.
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Das waren die Umstände, unter denen wir Ende der Neunzigerjahre das Landesmuseum für Tourismus planten. Die Aufbauphase war abgeschlossen, der Zustrom an Gästen scheinbar an eine quasi natürliche Grenze gestoßen und die Gefahr, dass das Feuer vom Herd jemals wieder aufs ganze Haus übergreifen könnte, anscheinend gebannt. Wohl hatte die Landesregierung 1997 zur „Sicherung der Fremdenverkehrsfunktion“ den vom LEP verfügten Bettenstopp wieder aufgehoben. Die Begründung: Die kostenintensiven Wellness-Anlagen bräuchten mehr Betten, damit sie sich amortisierten. Doch die wichtigste Kennzahl der Branche, die der Übernachtungen, änderte sich vorerst kaum. „Viel weiter nach oben dürfte es nicht mehr gehen“, prophezeiten wir auf einer Fachtagung, auf der wir das Touriseum vorstellten. So falsch kann man mit Prognosen liegen.
Der Schweizer Tourismusforscher und -kritiker Jost Krippendorf hatte in den Siebzigerjahren die These formuliert, dass es immer dann zu einer Abwehrreaktion gegen den Tourismus kommt, wenn er zu schnell über ein Gebiet hereinbricht und die Einheimischen zu wenig Zeit haben, sich daran zu gewöhnen. In Südtirol hatte man sich offenbar daran gewöhnt, die „Fremdenverkehrsfeindlichkeit“ war einer allgemeinen Akzeptanz gewichen. Auch die Einheimischen nutzten die perfekt präparierten Skipisten, genossen die verfeinerte Küche. Und sie wussten die vielen Aufträge und Arbeitsplätze zu schätzen, für die der Tourismus direkt oder indirekt sorgt – eben die vollen Suppentöpfe. Die Begleiterscheinungen nahmen sie erst einmal hin: den Verkehr auf den Straßen (zusätzlich zu dem, den sie selbst in immer größerem Ausmaß produzierten), die vielen Menschen, das hohe Preisniveau.
Wie falsch die Prognosen waren, zeigte sich bald. 2003, im Eröffnungsjahr des Touriseums, wurden offiziell 23,3 Millionen Nächtigungen registriert. Zehn Jahre später waren es bereits 29 Millionen, im Jahr vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie 33,6 Millionen, nach der Erholung vom Virus mehr als 36 Millionen. Ein Zuwachs von 13 Millionen in nur 20 Jahren. Was war geschehen?
Die Reiselust hatte weltweit stark zugenommen – selbst dann noch, als Klima-, Corona- und all die anderen Krisen die Zukunft verdüsterten. Oder gerade wegen dieser Krisen, weil man sie im Urlaub so leicht ausblenden kann. Und in Südtirol waren unter dem Druck der Lobbyarbeit von Hoteliers- und Gastwirteverband (HGV) sowie vom Bauernbund die Hintertüren im Baurecht wieder weit geöffnet worden. In Hafling, lange eine sogenannte unterentwickelte Gemeinde, gab es vor 20 Jahren keinen einzigen Betrieb mit mehr als drei Sternen, inzwischen sind es deren zwölf. Darunter eine 5-Sterne-Anlage mitten im Wald mit mehr als 40 Chalets, die um einen Teich gruppiert sind. Ein hochpreisiges, abgeschlossenes Refugium, das keinen Kontakt zur Umgebung wünscht.
Für die Tourismusgesinnung dürfte die genaue Zahl an Betten am Ende zweitrangig sein: 260.000 klingt ähnlich abstrakt wie 280.000.
Das Laissez-faire in der Raumordnung hat Südtirols Angebot an touristischen Betten wieder stark erhöht. Aktueller Stand (im Frühjahr 2024): über 250.000, in 20 Jahren ein Plus von 40.000 Betten. Und noch deutlich stärker haben die Ankünfte zugenommen. Ihre Zahl hat sich von 3,9 auf 8,4 Millionen mehr als verdoppelt. Denn es reisen sehr viel mehr für eine immer kürzere Zeit an. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt inzwischen bei nur noch 4,2 Tagen. Eine Folge auch von Christkindl-Märkten und anderen Marketing-Kreationen, die zum Kurztrip animieren. Für viele ist Südtirol nunmehr die Wochenend- und Brückentage-Destination mit den entsprechenden Megastaus bei An- und Abreise. Die leichte Erreichbarkeit ist Stärke und Fluch zugleich.
Zu den Massen eigener Touristen, die wenigstens für eine Nacht bleiben, kommen die durchrauschenden. Für Sportwagen- und Motorradfahrer sind Südtirols Passstraßen mittlerweile die Spielwiese in den Alpen. Das Ressort für Mobilität der Landesverwaltung teilt zwar immer wieder einmal mit, an einer Lösung des Verkehrsproblems auf den Passstraßen zu arbeiten. Bisher ist es aber bei einzelnen Studien und Verkehrszählungen geblieben.
8,4 Millionen Ankünfte, 36 Millionen Übernachtungen: Um all die Gäste zu bedienen, braucht es inzwischen zur Hochsaison ein Heer von 40.000 Köchen, Kellnerinnen, Zimmermädchen, Animateuren. Noch in den Siebzigerjahren wurden Hilfen für die Tourismusbranche damit begründet, dass sie die Abwanderung reduziere, weil sie Arbeitsplätze für die Einheimischen schaffe. Zwei Generationen später ist der auf Hochtouren laufende Tourismus der Hauptgrund für den Personalmangel auch in anderen Branchen und die Hälfte des Heeres muss von auswärts kommen – zur Hochsaison so viele, wie Brixen, die drittgrößte Stadt Südtirols, Einwohner hat.
Braucht es nur wieder eine Adaptationszeit, um sich auch an diese Massen zu gewöhnen? Oder ist irgendwann ein Maß erreicht, ab dem Krippendorfs These nicht mehr zutrifft? Barcelona, die Balearen und Kanaren hatten eine lange Erfahrung mit großen Tourismusströmen und entsprechend viel Zeit der Adaptierung. Dennoch hat sich dort neuer Widerstand gegen das Immer-noch-mehr formiert. Südtirol ist nicht Spanien, aber …
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Am Eingang in die Dauerausstellung des Touriseums steht ein stilisiertes Räderwerk. Zahnräder, die jeweils eine Komponente des Tourismus symbolisieren – Landschaft, Unterkunft, Essen und Trinken, Kultur, Aufstiegsanlagen, Abfahrtspisten –, greifen plakativ ineinander. Die Installation soll bewusst machen, dass gerade in der Tourismusbranche vieles zusammenspielen muss, um jene Gegenwelt zu kreieren, für die die Kundschaft sich auf die Reise macht. Wehe, eines der Zahnräder blockiert. Wehe, es fehlt zum Beispiel an der „Tourismusgesinnung“ als Schmiermittel. Der inzwischen oft gebrauchte Begriff meint eine positive oder zumindest neutrale Einstellung der Einheimischen gegenüber den Gästen – das Gegenteil von der einst beklagten „Fremdenverkehrsfeindlichkeit“.
Nachdem die „tourismusspezifische Form des Wahnsinns“ fürs erste abgeklungen war, hatte sich in Südtirol tatsächlich wieder eine Tourismusgesinnung eingestellt. Es war die Einsicht, dass der hohe Lebensstandard zu einem guten Teil den Touristinnen und Touristen und ihrem Geld zu verdanken ist. In diese Einsicht mischte sich auch der Stolz auf dieses Südtirol, das so viele anzieht. Doch mittlerweile knirscht es wieder im Getriebe. Zunächst war es nur der stark verdichtete Verkehr, der zu einer kritischen Haltung gegenüber dem Immer-noch-mehr führte. Inzwischen ist es die Masse an sich, die „ein psychisch belastetes Gefühl der Enge aufgrund von zu vielen Gästen“ (Formulierung aus einer Umfrage von Eurac Research) erzeugt. Und nicht nur das.
Es gibt keine Formel, mit der das Zuviel und der Zeitpunkt seines Eintretens exakt bestimmt werden könnte. Entsprechend vage ist der Begriff, den die Fachsprache dafür hat: Overtourism. In einem 2018 veröffentlichten Papier versuchte sich die Eurac an einer Definition: Overtourism sei eine „Wahrnehmung der Einheimischen“ und sie führe zur Frage, wieviel Tourismus sie ertragen können und wollen. Seit das Schlagwort auch in Südtirol auftauchte, betont der HGV, es sei doch nicht das ganze Land ein Pragser Wildsee oder ein Wolkenstein zur Hochsaison.
Doch auch die „Fremdenverkehrsfeindlichkeit“ in den wilden Siebziger- und Achtzigerjahren war nicht im ganzen Land zu spüren. Wesentlich ist, ob sie dort auftritt, wo sich die Gästeströme konzentrieren. So nennt das LTEK, das „Landesentwicklungstourismuskonzept 2030+“, generell die einheimische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, die durch „die hohe Tourismusintensität eine Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität wahrnimmt“.
Südtirol ist nicht Spanien, aber …
Das LTEK ist eine Reaktion auf das Knirschen im Getriebe. Das mit vielen Floskeln von einer „nachhaltigen Tourismusentwicklung“ aufgeblasene Konzept enthält im Kern wieder eine Deckelung der Bettenkapazität wie damals der LEP, vermeidet aber dessen größten Fehler. Basis für den Deckel ist nicht ein Stichtag in der Zukunft, was erneut zu einer Torschlusspanik führen würde, sondern in der Vergangenheit. Basis ist der Höchststand an Betten, den jeder einzelne Betrieb an einem von ihm selbst gewählten Tag im Jahr 2019 nachweisen kann – anhand der Gäste, die er an jenem Tag gemeldet hatte. Dazu kommen jene Betten, die damals bereits genehmigt waren oder seitdem noch amtlich genehmigt wurden. Am Ende dürfte der Deckel bei über 260.000 Betten liegen.
Dabei wird es nicht bleiben. Denn die Landesregierung hat in ihrem Beschluss zum LTEK ausdrücklich erwähnt, dass „Urlaub auf dem Bauernhof“ von dieser Begrenzung ausgenommen ist, da der „Erhalt von kleinstrukturierten landwirtschaftlichen Betrieben“ im öffentlichen Interesse sei. Wie nicht anders zu erwarten, schimpft der HGV seit diesem Beschluss über „eine eklatante Benachteiligung“ der Hotelbetriebe zugunsten derer, die den Tourismus nur als Nebenerwerb betreiben. Diese Kluft zwischen „gastgewerblichen“ und „nicht-gastgewerblichen“ Betrieben besteht seit Jahrzehnten. Der Erfolg von „Urlaub auf dem Bauernhof“ – ein Anstieg von 21.000 auf 31.000 Betten in den letzten 20 Jahren – hat ihn noch vertieft. Auch für den boomenden Wohnmobil-Tourismus fehlt noch eine Obergrenze. Und die offiziell bekannten Zahlen der auf Airbnb angebotenen Unterkünfte haben sich in fünf Jahren auf über 6.000 verdoppelt (Astat 2023).
Für die Tourismusgesinnung dürfte die genaue Zahl an Betten am Ende ohnedies zweitrangig sein. 260.000 klingt ähnlich abstrakt wie 280.000. Wesentlicher für die „Wahrnehmung der Einheimischen“ dürften Begleiterscheinungen sein.
Beispiel Guest Pass. Während Einheimische für eine Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln zahlen müssen, fahren Gäste in Bussen, Zügen und einigen Seilbahnen gratis. Die Einführung des Passes im Jahr 2023 löste einen Proteststurm aus, auch weil es seitdem zu einer Überfüllung vieler Busse und Züge kommt. Gratis ist der Pass nicht. In den Gastbetrieben, die ihn ausgeben, ist er im Zimmerpreis eingerechnet und die örtlichen Tourismusorganisationen müssen für jede Übernachtung 55 Cent (Stand 2024) als Kostenbeitrag ans Land abführen. Dennoch hat sich der Eindruck festgesetzt, dass mit dem Guest Pass wieder einmal ein Privileg geschaffen wurde.
Und dann ist da die fehlende Bereitschaft vieler Einzelner und der Branche insgesamt, sich zu bescheiden. Der Verzicht darauf, jede Chance zu ergreifen, täte der Welt gut. Stattdessen Gier nach immer noch mehr. Wer ein kleines Hotel hat, will ein größeres. Wer eine große Hotelanlage hat, will etwa am Gardasee eine zweite. Wer bereits in Hafling eine Chalet-Anlage hat, muss im Gebiet der Drei Zinnen eine weitere planen.
Die Passstraßen sind vom motorisierten Ausflugsverkehr völlig überlastet. Dennoch werden 200.000 Euro bezahlt, damit der Giro d’Italia für einen Tag auch über diese Straßen führt. Zur Hochsaison im Winter ist das Pustertal völlig überlastet. Dennoch fließen viele Millionen von Euro in Olympische Winterspiele. Dahinter steckt ein fatalistisches Sich-fügen in die angeblichen Zwänge der Ökonomie.
Laut diesen Gesetzen ist es lukrativer, Wohnungen über die Buchungsplattform Airbnb tageweise an Kurzurlauber zu vermieten anstatt an Dauermieter – mit der Folge, dass sie auf dem Markt für Mietwohnungen fehlen und die Mieten auch deshalb in die Höhe schießen. Und wenn neue Immobilien in guten Lagen so teuer sind, dass Einheimische passen müssen, so finden sich schnell finanzkräftige Käufer von auswärts, wie ein Makler freimütig erzählt (ff 15/24): Südtirol sei eben „eine Top-Tourismusdestination mit wohlhabenden und prominenten Gästen, die sich immer öfter hier was kaufen wollen.“ Im Gegensatz dazu beschreibt der Jahresbericht der Caritas „ein anderes Südtirol“, das so gar nicht zu den Bildern und Sprüchen der Tourismuswerbung passt. Trotz des boomenden Tourismus (oder wegen ihm?) ist für viele eine Wohnung nicht mehr bezahlbar.
Ein Fazit des neuen Tourismuskonzepts LTEK lautet: „Der Tourismus kann nur funktionieren, wenn er von der Bevölkerung mitgetragen wird.“ Daher wünschte ich mir für die Branche, dass der Aphorismus von der Suppe und dem Feuer nicht nur als Bonmot in einem Museum hängt.
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Zum Text
Dieses Essay ist in voller Länge als Aufmacher-Text im Buch „Heimat oder Destination Südtirol? Tourismus in Maßen statt in Massen“ erschienen, das seit Ende August im Buchhandel erhältlich ist und vom Heimatpflegeverband Südtirol und dem Studienkreis POLITiS herausgegeben wurde.
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