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Hinter den Bergen liegt Palästina

Auf dem Weg in die neue Heimat querten im Sommer 1947 Tausende Juden die Alpen und Südtirol. Eine Gedenkwanderung erinnert und mahnt zu Frieden. Der wird in Israel ein Jahr nach dem 7. Oktober weiter von Raketenalarm übertönt.
das Krimmler Achental mit den Tauerngipfeln im Hintergrund
Foto: LMG
  • Ein Sommernachmittag 1947. Vor dem Krimmler Tauernhaus machen sich Dutzende Menschen zum Abmarsch bereit. Unweit der Hütte steht Hand in Hand das Ehepaar Dow und Alta Geisinger. Dow trägt einen Koffer mit den wenigen Habseligkeiten. Um Hüfte und Schultern hat der 30-Jährige eine Armeedecke geschnürt. Darin eingewickelt: die sieben Monate alte Tochter. Auf das „Gemma!“ von Bergführer Viktor Knopf stapft die Gruppe los, schlecht ausgerüstet für die hochalpine Wanderung über den 2.634 Meter hohen Krimmler Tauern, den es in den Zillertaler Alpen zu überqueren gilt. Jenseits des Gipfels liegt Südtirol – und ein Schiff in einem italienischen Hafen, auf dem ihre Hoffnungen ruhen. Es soll sie fortbringen. Fort von Gewalt, Tod, Verfolgung. Nach Eretz Israel, nach Palästina.

  • Vor dem Abmarsch: Nach einer Rast ging es für jüdische DP-Flüchtlinge 1947 vom Krimmler Tauernhaus über die Alpen ins Ahrntal. Foto: Archiv APC/Sammlung Dov Protter

    Die Menschen, die Tauernhaus-Wirtin Liesl Geisler nun verabschiedet, sind Jüdinnen und Juden, die Europa verlassen wollen: Vertriebene, Überlebende des Holocausts, Heimatlose. Einen legalen Weg gibt es für sie noch nicht, also nehmen sie die beschwerliche Route über die Alpen auf sich. Um zwei Uhr nachts sind sie von der Ortschaft Krimml im Salzburger Pinzgau aufgebrochen und nach mehreren Stunden Fußmarsch im Tauernhaus eingetroffen. Die Hüttenwirtin hat sich liebevoll gekümmert: den Kindern Mehlbrei, ein „Papperl“, den Erwachsenen Tee und Eintopf gekocht, Windeln gewaschen, geschaut, dass alle Ruhe finden. Vorerst. Für Dow und Alta Geisinger wird die Flucht noch zweieinhalb Jahre dauern.

  • Der Krieg endet, die Gewalt nicht

    Schlecht ausgerüstet: Dow und Alta Geisinger überquerten wie die Familien auf dem Bild mit Kleinkind und nur wenigen Habseligkeiten 1947 den Krimmler Tauern. Foto: Archiv APC

    77 Jahre später, Ende Juni 2024. Am Krimmler Tauernhaus – die Hütte von damals ist einem modernen Bau gewichen – herrscht geschäftiges Treiben. 250 Menschen brechen zu einer Wanderung auf. Rucksäcke werden festgezurrt, Proviant und Getränke verstaut. Allerlei Sprachen flirren durch den lauen Sommermorgen: Hebräisch, Deutsch, Englisch in allen Färbungen, Italienisch. Inmitten der Menge steht der Sohn von Dow und Alta Geisinger, Yehuda Gai. Er ist aus Israel angereist, um auf den Spuren seiner Eltern die 18 Kilometer lange Strecke zurückzulegen. Zum elften Mal.

    Seit 2007 organisiert der Verein Alpine Peace Crossing (APC) eine Gedenkwanderung. Die Initiative geht auf den ehemaligen österreichischen Bankier und nunmehrigen APC-Ehrenpräsidenten Ernst Löschner zurück. Heuer ist Yehuda Gai wieder dabei. Erstmals begleiten ihn Tochter, Schwiegersohn und Enkel. Yehudas drahtige Statur lässt erahnen: Er ist mit Mitte 70 noch immer gerne in den Bergen unterwegs. Das graue Haar ist schütter geworden, den blauen Augen aber entgeht nichts. „Die Geschichte der ‚Bricha‘, der Flucht Hunderttausender Juden aus der Hölle in Europa nach Palästina, um den Staat Israel aufzubauen, ist kaum bekannt“, sagt Yehuda. Der pensionierte Ingenieur spricht akzentfrei Englisch und ein wenig Deutsch. Geboren wurde er im Dezember 1949, erst im Januar desselben Jahres waren seine Eltern und seine Schwester mit dem Schiff Caserta von Bari aus in den Nahen Osten gelangt. Wie viele jüdische Flüchtlinge änderten die Geisingers ihren europäischen Familiennamen in den hebräischen, den Yehuda heute trägt: Gai.

  • Die Geisingers waren polnische Juden. Mutter Alta überstand die Kriegsjahre im Ghetto der Kleinstadt Czeladź und dann im tschechoslowakischen Zwangsarbeiterlager Parschnitz-Trautenau. Vater Dow kämpfte bis Mai 1945 in der Roten Armee. Die Nazis ermordeten seine erste Frau und seinen fünfjährigen Sohn. Nach dem Krieg traf er Alta, im Februar 1946 heirateten sie.

  • Nach dem Krieg: Dow Geisinger (1. Reihe, liegend, links) absolvierte im Displaced-Persons-Lager Bindermichl bei Linz eine Ausbildung zum Fahrlehrer. Foto: Archiv Yehuda Gai

    Auch nach dem Ende der Naziherrschaft waren Juden in Europa nicht sicher vor Gewalt und Diskriminierung. Bei einem Pogrom im polnischen Kielce wurden 40 Menschen getötet, Zehntausende flohen, viele Richtung Österreich. Die Geisingers landeten in Bindermichl bei Linz, in einem Lager für Displaced Persons, wie man die Hunderttausenden ehemaligen Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene nannte, die fernab ihrer Heimat gestrandet waren. In Bindermichl gebar Alta eine Tochter, zu dritt zogen sie weiter in das Lager Saalfelden bei Salzburg, dann per Lkw nach Krimml, zur Flucht über die Berge. 

    Vom Schicksal seiner Familie hat Yehuda Gai von seiner Mutter erfahren. Ihre Erzählungen hat er aufgezeichnet, vervielfältigt und in der Familie verteilt: 20 Kopien. „Eine große Familie zu haben, ist mein Sieg über die Nazis“ – dieser Satz der Mutter hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Ihre Geschichte, »die ja auch die Geschichte einer ganzen Generation ist«, betont Yehuda, sie soll nicht vergessen werden.

  • An den Briten vorbei

    200.000 Jüdinnen und Juden aus Osteuropa verließen in den ersten drei Nachkriegsjahren Europa, meist in Richtung USA oder Palästina. Österreich wurde zur Drehscheibe des jüdischen Exodus. Doch auf Druck der britischen Besatzer wurde den Flüchtlingen der Weg nach Süden verwehrt oder zumindest erschwert. Großbritannien, Mandatsmacht in Palästina, wollte eine Masseneinwanderung verhindern, um Konflikte zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung klein zu halten.

  • Die Route der Hoffnung: Vom Lager Givat Avoda („Hügel der Arbeit“) in Saalfelden bei Salzburg ging es für Tausende Jüdinnen und Juden nach Krimml und von dor zu Fuß über die Passhöhe nach Südtirol. Foto: APC

    Die beste Chance, es trotzdem über Italien nach Palästina zu schaffen, bot die Route über den Krimmler Tauern. Dort bildet ein schmaler Gebirgsstreifen die Grenze zwischen Südtirol und dem damals amerikanisch verwalteten Salzburg. Anders als Briten und Franzosen gingen Amerikaner und Italiener nicht konsequent gegen Grenzübertritte vor. So begann die jüdische Fluchthilfeorganisation Bricha, Flüchtlinge aus dem Lager Saalfelden nach Krimml zu transportieren. Eine zentrale Rolle in der „Tauernflucht“ nahm der KZ-Überlebende Marko Feingold ein, der als Bricha-Mitarbeiter die Route über den Gebirgspass bereits 1946 ausgekundschaftet hatte. Gemeinsam mit dem Bergführer Viktor Knopf, selbst Jude, der im Sommer 1947 Woche für Woche Gruppen von 150 bis 200 Personen von Krimml ins Ahrntaler Dorf Kasern begleitete: im Dunkeln, ohne festes Schuhwerk und Regenschutz, mit nur wenig Verpflegung. Angekommen, wurden die meisten Menschen von Bricha-Mitgliedern über Meran und Mailand in die Hafenstädte Genua und Bari gebracht. 5.000 bis 8.000 passierten zwischen Juni und September 1947 den Krimmler Tauern, bis Schneefall weitere Überquerungen unmöglich machte. Erst die Proklamation des Staates Israel im Mai 1948 machte die strapaziöse Fluchtroute überflüssig – nun konnten Juden ganz legal aus Europa ausreisen.

  • Um nicht zu vergessen

    Einzige jüdische Militäreinheit: Eliyahu Litani Alterman diente als Kompaniefeldwebel in der von den Briten kommandierten Jüdische Brigade in Europa. Foto: Archiv Rami Litani

    Wie vielen Menschen Eliyahu Litani Alterman wohl zur Flucht verholfen hat? Hunderten? Tausenden? Der jüdische Soldat aus der Hafenstadt Haifa im Norden des heutigen Israel kommt 1944 nach Italien. Er dient freiwillig als Kompaniefeldwebel unter britischem Kommando in der Jewish Brigade, der einzigen jüdischen Militäreinheit im Zweiten Weltkrieg.

    Nach Kriegsende treffen Eliyahu Litani und seine Kameraden auf Holocaust-Überlebende, versorgen sie mit Essen, Decken, Kleidern, Benzin und helfen ihnen auf dem schwierigen Weg nach Palästina. Die Briten missbilligen diese Fluchthilfe. Um ihre Aktionen zu tarnen, gründen Eliayhu und die anderen Männer ein fiktives Unternehmen, die T.T.G. Company: Tilhas Tizi Gesheften. „Im Englischen bedeutet das so viel wie ‚Kiss my ass business‘, erklärt Rami Litani schmunzelnd. Lachfalten schmücken die braunen Augen des 70-Jährigen, sein pechschwarzes Haar trägt er kurz. Er ist Eliyahus Sohn, geboren 1953 in Israel.

    Die Wanderung, die an die Krimmler Judenflucht erinnert, absolvieren Rami und seine Frau Leah heuer zum siebten Mal – zum ersten Mal mit Tochter und Schwiegersohn. Die Familie ist stolz auf den Vater und Opa Eliyahu, der bis ins hohe Alter gern von seiner Zeit in der Jüdischen Brigade erzählt hat. Seit Jahren trägt Rami – bis zur Pensionierung Personalmanager einer Bank – in akribischer Recherchearbeit Dokumente, Bilder und Zeitzeugenberichte zusammen, vernetzt Nachkommen der Soldaten der Jewish Brigade weltweit, hält Vorträge und Kontakt zum Verein Alpine Peace Crossing. Er möchte, „dass die Menschen die Geschichte kennen“. Ohne sich aufzudrängen. Wird Rami aber gefragt, nimmt er sich viel Zeit für eine Unterhaltung, problemlos in Englisch.

  • Ein „Nie wieder“ allein reicht nicht

    Bevor es losgeht, stehen Rami Litani und Yehuda Gai vor dem Tauernhaus beisammen. Die beiden scherzen, erfreut über die vielen jungen Menschen unter den Wanderern. Die Sorgen, die sie aus Israel mitgebracht haben, tragen sie nicht im Gesicht. Aber auf ihrer Brust. Ein blauer Davidstern mit gelber Schleife ziert Ramis weißes T-Shirt, auf Yehudas schwarzem Shirt steht: „Bring them home now!“

  • Flucht damals und heute: Jedes Jahr erinnert die Gedenkwanderung des Vereins Alpine Peace Crossing an die Geflüchteten von 1947 und heute. Foto: LMG

    Zeichen der Solidarität mit den israelischen Geiseln, die seit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 in der Gewalt der Hamas sind. Einen Tag wie jenen Samstag, an dem „uns vor Augen geführt wurde, dass unsere Existenz, das Überleben des Staates Israel nicht selbstverständlich ist“, habe er „nie für möglich gehalten“, sagt Rami. Jener Staat, der nach dem Zweiten Weltkrieg auch Yehudas Eltern Hoffnung gegeben hat. „Jetzt sind wir in der Hölle“, sagt Yehuda. Das „Bringt sie nach Hause, jetzt!“ auf seinem Shirt ist eine Botschaft an die israelische Regierung: „Sie muss alles für die Freilassung der Geiseln tun: Hört auf zu kämpfen, bringt sie nach Hause, lebend oder tot.“ Dieser 7. Oktober sei für Juden „der schlimmste Tag seit dem Holocaust“ gewesen, sagt er. „Doch wir müssen das ‚Nie wieder‘ verteidigen – ohne auf unser Menschsein zu vergessen, ohne das zu tun, was uns Juden angetan worden ist.“

    Ein „Nie wieder“ allein reiche nicht, es gelte, an das zu erinnern und zu begreifen, was „nie wieder“ kommen soll – diese Mahnung des Politikwissenschaftlers Anton Pelinka gibt der Journalist Michael Kerbler, APC-Ehrenmitglied, den Teilnehmern der Wanderung mit. Verstehen, nicht vergessen: Dieses gemeinsame Anliegen lässt Yehuda Gai und Rami Litani weitermachen. Trotz eines wiedererwachten Antisemitismus, den sie auch in Europa wahrnehmen. Oder vielleicht gerade deswegen. Sie werden wieder nach Krimml kommen. Für sein Engagement erhält Rami dieses Jahr den APC-Friedenspreis. Der leidenschaftliche Musiker hat seine Klarinette dabei, stimmt ein jüdisches Lied an. Viele kennen es und singen mit: „Hine ma tov uma na’im shevet achim gam yachad“ – wie gut es ist, wenn Freunde einträchtig beieinandersitzen.

     

    Hinweis: Dieser Text ist zuerst in gekürzter Form in DIE ZEIT Österreich erschienen.

  • Ein Jahr nach dem 7. Oktober

    Am Montag jährte sich das Massaker vom 7. Oktober 2023, bei dem die Terrormiliz Hamas in Israel über 1.200 Menschen ermordete und mehr als 200 Geiseln nahm, zum ersten Mal. Yehuda Gai und Rami Litani berichten, wie sie den 7. Oktober 2024 in Israel erlebt haben.

     

    Rami Litani: „Erinnerungen an den Holocaust“

    Den ganzen Tag über wurden im Radio und Fernsehen die schrecklichen Geschichten der ermordeten Menschen, der getöteten Soldaten, der Überlebenden und der Rückkehrer sowie der 101 Geiseln, die noch nicht zurückgekehrt sind – einige von ihnen sind nicht mehr am Leben – ausgestrahlt. Furchtbare Geschichten, die mich an die Erzählungen der Juden aus dem Holocaust erinnern.

    Es ist sehr schwer, die eigenen Gefühle mit jemandem zu teilen, der diesen schrecklichen Tag – den 7. Oktober 2023 – nicht selbst erlebt hat. So viele Erinnerungen kommen hoch. Hinter den Namen und Geschichten stehen Menschen, mit denen ich persönlich verbunden bin. Den ganzen Tag weint das Herz, die Augen tränen. Der Verstand weigert sich zu glauben, was uns hier, im Staat Israel, widerfahren ist.

    Mittags saß ich mit einer Gruppe von Freunden in der Nähe der Gedenkstätte, wir sangen hebräische Lieder. Es war für uns sehr wichtig, beisammen zu sein. Am Abend sahen wir uns die Übertragungen der Gedenkveranstaltungen an. Wieder Geschichten, wieder Lieder, wieder Tränen.

    Um uns an die Realität zu erinnern, gab es drei Alarme wegen Raketenbeschusses. Wir rannten in die Schutzräume und Bunker. Meine Enkelinnen haben große Angst, wollen nicht allein gelassen werden und schlafen nachts nicht.

    Aber wir glauben und sind sicher, dass wir siegen werden. Wie wir sagen: „Am Israel Chai“ (das Volk Israel lebt). Ja, das war mein 7. Oktober 2024 in Kürze.

     

    Yehuda Gai: „Ein Jahr des Albtraums“

    Ein Jahr des Albtraums. Ein Jahr nationaler Verluste und von Menschen, die ich persönlich kannte. Es gab eine landesweite Debatte darüber, wie man den Jahrestag eines Ereignisses, das noch nicht zu Ende ist und sogar eskalieren könnte, begehen soll. Überall fanden Gedenkfeiern statt – während Sirenen vor Raketen warnten, die von vier Fronten auf zivile Städte und Dörfer abgefeuert wurden: Gaza, Libanon, Jemen und Irak.

    Zwei Mal waren wir in einem Schutzraum, das andere Mal bei einem Gedenkgottesdienst. Gleich zu Beginn ertönte ein Alarm. Wir wurden angehalten, an Ort und Stelle zu bleiben, die Köpfe geneigt und auf die Hände gestützt. Es war surreal. Im Hintergrund hörten wir die Explosionen der Abfangjäger.

    Es ist unmöglich, sich an die allgemeine Besorgnis zu gewöhnen, besonders wenn Familienmitglieder im gesamten Land verstreut sind und drei Enkel als Reservisten dienen.
    Das Gefühl, sich dem absoluten Bösen entgegenzustellen, gepaart mit dem mangelnden Verständnis der Führung und einiger Bürger vieler demokratischer Länder, ist sehr frustrierend und erinnert an die dunklen Zeiten in Europa vor 80 Jahren. Extreme rechtsgerichtete anti-jüdische (und anti-islamische) Bewegungen erwachen zum Leben und mit ihnen die Angst um das freie und demokratische Leben in Europa.

    Die Menschen in Israel aber sind entschlossen, die Katastrophe zu überwinden und Maßnahmen zu ergreifen, um Vorfälle wie am 7. Oktober in Zukunft zu verhindern. Wir werden das tun, mit oder ohne Unterstützung der demokratischen und freien Länder.