Kultur | Literatur

Nur die Besten bleiben jung

In memoriam Peter Oberdörfer. Am 8. Februar ist der 1961 in Schlanders geborene Schriftsteller in Meran verstorben.
Peter Oberdörfer
Foto: Salto.bz

Alle, die Peter Oberdörfer besser, länger, früher oder anders kannten als ich, mögen mir verzeihen, wenn dieser sehr persönliche Nachruf für Piet nur jene Perspektive beleuchtet, die der Autor des Nachrufs kennt. Denn „wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. 

Woher kam dieser Piet? Es war uns ein Rätsel. 

Diesen beiläufigen Satz aus Wittgensteins Hauptwerk zitierte Piet 2009 auf unserer ersten Peripatos Wanderlesung nach Sankt Hippolyt bei Naraun. Es war die kürzeste Teil-Lesung, der ich je beiwohnte, sie bestand nur aus dieser einen Feststellung aus dem Tractatus. Dann wanderten wir weiter und jeder konnte schweigend darüber nachdenken, was Piet uns hier wohl mit auf den Weg geben wollte. Und als Peter Oberdörfer am 8. Februar 2017 von uns ging, waren alle, oder fast alle, die ihn kannten, fassungslos. „Wie kann das sein? Ich habe doch eben erst mit ihm gesprochen.“ „Er war doch vor zwei Wochen noch voller Elan.“ Als Schauspieler war Piet ein geübter Rezitator und wenn es sein musste, laut; auch privat eloquent, energiegeladen und jovial. So merkten wenige, dass er eigentlich nie mehr als nötig von seinem Privatleben preisgab. Jederzeit bereit, einen Disput über Rousseaus Naturzustand oder Augustinus’ Prädestinationslehre anzufangen – nicht wie Sokrates, der auf dem Marktplatz begierig darauf wartete endlich befragt zu werden, sondern nur – wenn er dazu aufgefordert wurde, ließ er das Private in den Hintergrund treten. Offenheit und Diskretion, das beherrschen wenige zur selben Zeit. Doch spulen wir den Faden der Zeit kurz zurück.

Es war Mitte der 1990er Jahre, als sich Peter Oberdörfer, damals schon Piet, einer äußerst bunten und fidelen, aber im Grunde traurigen Gruppe von Jugendlichen annahm. Die Gemengelage aus Provinzpunks, Obdachlosen und Hausbesetzerfans aus Meran und dem Vinschgau hatte soeben ein Zentrum mit Sitz in einem verlassenen Haus gegründet. Das KasparHaus in Meran. Man pflegte auch Kontakte zum VJK, dem einzigen Verein, der diese Jugendlichen freiwillig ins Haus ließ. Diverse Wirrköpfe wollten Bücher schreiben, ohne ein Buch gelesen zu haben, und Filme drehen, ohne einen Film gesehen zu haben, sie wollten Theater spielen und musizieren, ohne ein Instrument zu beherrschen – und wurden nicht nur von der kulturellen Elite ignoriert. Unter der Regie von Piet verwandelten sich die Jugendlichen der Undergroundbühne KasparTheater zwar nicht in begnadete Schauspieler, wenngleich einige wenige durchaus Talent bewiesen, doch er half ihnen dabei, ihren Eigenwert, den Wert für sich selbst zu entdecken, man könnte auch sagen, er half ihnen dabei sich aus eigener Kraft zu resozialisieren, denn: da gab es jetzt jemanden, der einen ernst nahm und sein Handwerk verstand. Das war neu. Und das haben die Mitglieder der Anarchotruppe, die damals sieben Aufführungen in Südtirol und im Trentino hinlegten, bis heute nicht vergessen, auch wenn sie längst erfolgreich oder auch weniger erfolgreich in Bozen, Berlin oder Paris ein anderes Leben führen. Piet ist den Weg des zeitgemäß Unzeitgemäßen konsequent weitergegangen. Sein Verhältnis zu den jugendlichen Spontis war herzlich, doch zugleich wahrte er Distanz und forderte sie mit strenger Miene auf, pünktlich zu den Proben zu erscheinen, sonst würde das ganze (in Vinschger Mundart) „a Katastroph“. Und das Wunder geschah.

Woher kam dieser Piet? Es war uns ein Rätsel. Er hatte nach seiner Ausbildung in den 1980er Jahren selbst Theater auf der Straße gespielt, sich in Spanien als Straßenkünstler und Schauspieler über die Runden gebracht, gemeinsam mit einem Pantomimen aus Neapel, und dabei Glam und Gosse gesehen. Wovon er selten sprach. Wieder in Südtirol, schrieb er Ein-Mann-Stücke, Grotesken und Monologe, die er selbst inszenierte und spielte. Neben der grenzwertigen Erfahrung mit dem anarchistischen Kaspartheater wirkte er über Jahre hinweg maßgeblich am alternativen Meraner Theaterprojekt, dem Theater in der Klemme, mit.

Als die Leute von der vormaligen Kaspartruppe vereinzelt wieder Kontakt mit Piet aufnahmen, der in diesen Jahren immer wieder für die Sturzflüge schrieb, waren bereits zehn Jahre vergangen, die meisten lebten irgendwo, und Piet schrieb gerade an neuen Stücken. Ich erinnere mich, dass wir von Wien, andere von München angereist sind, um der Uraufführung seiner Anna Jobstin auf Schloss Prösels beizuwohnen. einmalig. am Ort des Verbrechens. In diesen Jahren erschienen auch seine beiden Romane im Raetia Verlag. Offenheit und Diskretion auch im Roman: dem Leser | der Leserin die Interpretation überlassen; keine überflüssigen psychologische Untiefen ausloten; der Banalität des Bösen mit leichtfüßiger Ironie begegnen. Hier ist Philosophie am Werk. Und es ist fünf vor zwölf. Beinahe hätte ich’s vergessen:

Vierzehn Jahre lang, von 2001 bis 2015, war Peter Oberdörfer Vorsitzender der Südtiroler Autorenvereinigung (SAV).

Der eingangs erwähnte Peripatos zog seine Spuren im Geist und durch die Meraner Altstadt. Neben dem erratischen zweisprachigen Literaturwettbewerb Frontiere/Grenzen und einem Utopie-Lesekreis unter freiem Himmel wurde die Idee der Wanderlesung im Jahr 2012 wieder aufgenommen, als das kleine Meraner Literatur-Festival Sprachspiele seinen Anfang nahm. Der Name des Festivals, das ich gemeinsam mit Piet und Sonja Steger an einem trüben Septembernachmittag in dem eigenwilligen Lokal Bersaglio entwarf, leitete sich von der eingangs erwähnten Wittgenstein-Literatur-Performance ab. Das Festival wandelte sich nach seinem furiosen Beginn mangels Budget in ein dreitägiges Literatur-Cross-Over-Event, das bis heute alljährlich im Oktober stattfindet. Wir trafen uns von da an regelmäßig im Bersaglio oder Dopolavoro. Ich konnte dem Charme des architektonischen Verfalls nach zehn Jahren Wien und Prag nichts mehr abgewinnen. Piet aber empfand so etwas wie Zuneigung für die späthabsburgische Meraner Dekadenz. Und so schlug er vor, die Wanderlesung einmal an ausgewiesenen Un-Orten zu machen, die jede Stadt nun einmal hat. In der Industriezone, unter Brücken, bei Regen. Wir waren skeptisch, ob das verwöhnte Publikum das mitmacht. Doch das Wunder geschah.

Endnotiz
Hier schließt sich der Kreis, der nicht rund ist. der nie rund ist. nie rund sein wird. wenn ich sage: Peter Oberdörfer ist den Weg des zeitgemäß Unzeitgemäßen konsequent zu Ende gegangen. mit Josef Roth und Ernst Jandl zuletzt. mit Humor. und ohne Ersatz. Was bleibt, ist eine Leere.