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„Hände zur Hilfe reichen“

„Menschen mit Alkoholproblemen haben oft Angst vor Stigmatisierung und Entwertung“, sagt Walter Tomsu, ärztlicher Leiter des Ambulatoriums von HANDS. Doch wie kann den Betroffenen am besten geholfen werden?
Walter Tomsu HANDS
Foto: Walter Tomsu
  • Tomsu: „Obwohl Alkoholprobleme oft nicht leicht eingestanden werden, sehen wir eine steigende Inanspruchnahme unserer Dienste.“ Foto: HANDS onlus

    SALTO: Herr Tomsu, was ist Ihre Funktion bei HANDS?

    Walter Tomsu: Ich bin seit 2009 Sanitätsdirektor von HANDS. Davor war ich von 1996 bis 2001 ärztlicher Leiter von Drogeneinrichtungen in Österreich („Grüner Kreis“) und von 2001 bis 2007 Oberarzt im öffentlichen Abhängigkeitsdienst (SerD- Servizio Dipendenze) in Fano (Provinz Pesaro-Urbino). Ursprünglich stamme ich aus dem Bereich der Psychosomatik und bin somit sowohl Arzt als auch Psychotherapeut.

    Worum geht es bei HANDS?

    Unsere Einrichtung, ursprünglich als CRIAF (Centro Ricerca ed Interventi per problemi di Alcol e Farmacodipendenza) bekannt, wurde nach der Jahrtausendwende in HANDS umbenannt. Der Name HANDS symbolisiert „Hände zur Hilfe reichen“ und wurde bewusst auf Englisch gewählt, um eventuelle italienisch-deutsche Zwistigkeiten elegant zu umgehen. HANDS ist ein Verein, besteht nunmehr seit über 40 Jahren und hat mit dem Sanitätsbetrieb eine Konvention abgeschlossen. Der Zugang zu unseren Dienstleistungen ist kostenlos, es ist keine Überweisung nötig und die maximale Wartezeit beträgt bewusst nur eine Woche, damit die Motivation zur Behandlung nicht wieder abnimmt. Unser Ansatz ist bio-psycho-sozial und umfasst ein interdisziplinäres Team aus Ärzt*innen, Psychiatern, Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Sozialassistentinnen und Erziehern.

     

    „HANDS bietet in allen Sektoren Angehörigenberatung an.“

     

    Im Rahmen unseres Ambulatoriums, das sich mit Alkohol-, Medikamentenabhängigkeit und Spielsucht befasst, gibt es seit fünf Jahren YOUNG HANDS, welches sich an Klient*innen im Alter von 12 bis 25 Jahren richtet. Hier stehen Themen wie Mehrfachmissbrauch von legalen und illegalen Substanzen (außer Opiate), Spielproblematik (meist online) und Isolationsverhalten („Hikikomori“) im Vordergrund. Auch dieser Bereich ist mit dem Sanitätsbetrieb konventioniert und somit kostenlos. HANDS bietet in allen Sektoren Angehörigenberatung an. Zudem gibt es indirekte Kontakte durch Vermittlung durch andere Dienste und Institutionen. Bei Minderjährigen ist die Präsenz von Erziehungsberechtigten Voraussetzung.

    Zusätzlich bietet HANDS eine Therapie-Gemeinschaft in Bozen mit Schwerpunkt psychosoziale Rehabilitation, ein Tageszentrum in Bozen sowie Beratungsstellen in Meran, Neumarkt, Sarnthein und Bruneck an. Geplant ist in den nächsten Monaten die Eröffnung einer Entzugsklinik in Salurn/ Buchholz.

    Welche Personen suchen sich bei Ihnen Hilfe?

    Wir sind hauptsächlich für Alkoholprobleme zuständig, aber auch für Medikamentenabhängigkeit und Spielsucht. Unser Einzugsgebiet umfasst den Großraum Bozen, also die Stadt Bozen und den Bezirk Bozen, was etwa die Hälfte der Bevölkerung Südtirols ausmacht. Menschen kommen zu uns, weil sie selbst ihre Alkoholprobleme erkennen, von Verwandten dazu ermutigt werden, vom Krankenhaus Bozen an uns überwiesen werden oder auch vom Gericht oder der Führerscheinkommission geschickt werden. Wir arbeiten mit dem Sanitätsbetrieb zusammen und haben eine bewusst niedrige Zugangsschwelle, was bürokratische Hürden vermeiden soll, sodass keine Überweisung vom Haus- oder Facharzt notwendig ist.

     

    „International gesehen, suchen jedoch immer noch zu wenige Menschen mit Alkoholproblemen konsequent Hilfe.“

     

    Haben in den letzten Jahren mehr Personen Hilfe gesucht?

    Ja, die Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen von uns erfahren. Wir betreuen im Durchschnitt jährlich bis zu 1.500 Personen. Obwohl Alkoholprobleme oft nicht leicht eingestanden werden, sehen wir eine steigende Inanspruchnahme unserer Dienste. Dass Alkoholismus eine Krankheit ist, und nicht ein moralisches Versagen, hat sich mittlerweile auch in der Bevölkerung etabliert. International gesehen, suchen jedoch immer noch zu wenige Menschen mit Alkoholproblemen konsequent Hilfe. Schade, denn je früher man mit der Behandlung beginnt, umso leichter ist die Behandlung. Somit liegt momentan das durchschnittliche Zugangsalter zwischen 40 und 50 Jahren. Viele Menschen unterschätzen die gesundheitlichen Langzeitschäden durch Alkohol, weil man diese lange nicht verspürt.

  • Das Ambulatorium fungiert als eine Drehscheibe für stationäre Einrichtungen. Von dort aus wird der Verlauf der Behandlung besprochen und weiterführende Maßnahmen werden ergriffen. Foto: HANDS onlus
  • „In den letzten 20 Jahren hat sich das Trinkverhalten verändert: Es trinken mehr Menschen, aber im nationalen pro Kopf-Verbrauch insgesamt weniger. “

     

    Würden Sie sagen, dass Südtirol ein spezifisch höheres Alkoholproblem hat?

    Südtirol folgt dem europäischen Trend und steht im Vergleich zu Österreich sogar etwas besser da. In den letzten 20 Jahren hat sich das Trinkverhalten verändert: Es trinken mehr Menschen, aber im nationalen pro Kopf-Verbrauch insgesamt weniger. Die Prävention setzt verstärkt auf Abstinenz, und Initiativen wie der alkoholfreie Januar werden immer beliebter. Vor allem bei jüngeren Menschen findet da ein Umdenken statt. Der Risikokonsum in der Gesamtbevölkerung hat allerdings zugenommen, und Alkohol wird richtigerweise von der Weltgesundheitsorganisation als ziemlich gesundheitsschädliches und krebserzeugendes Zellgift eingestuft.

    Wie wirkt sich der Alkoholmissbrauch auf die Bevölkerung aus?

    In Südtirol, wie auch in der EU, sind etwa 3 bis 5% der Bevölkerung manifest alkoholabhängig, und weitere 10% betreiben Alkoholmissbrauch. Das betrifft rund 12 bis 15% der Bevölkerung. Diese 15% haben meistens noch Familienangehörige, wodurch wir davon ausgehen, dass insgesamt circa 20 bis 25% der Bevölkerung direkt oder indirekt Alkoholproblemen konfrontiert sind. Das ist eine ziemlich relevante Zahl, die aber nur unvollständig das individuelle Leiden als Betroffener oder Angehöriger beschreibt. Alkoholprobleme haben auch soziale Auswirkungen, wie Gewalt, Trennungen, Scheidungen und Arbeitsplatzverlust. Unsere Einrichtungen sind daher bio-psycho-sozial ausgerichtet und bieten medizinische, psychologische und sozialarbeiterische Hilfe an.

     

    „Eine tragfähige Beziehung herzustellen, ist stets der wichtigste erste Schritt.“

     

    Wie finden die meisten Betroffenen ihren Weg zur Einrichtung?

    Oft spielt die Familie eine Rolle, indem sie Druck ausübt oder ein Ultimatum stellt. Es ist uns wichtig, dass die Betroffenen sich bei uns verstanden fühlen und erkennen, dass wir wirklich helfen wollen. Menschen mit Alkoholproblemen haben oft Angst vor Stigmatisierung und Entwertung. Eine tragfähige Beziehung herzustellen, ist stets der wichtigste erste Schritt.

    Wie läuft die Therapie bei Ihnen ab?

    Die größte Anlaufstelle ist unser Ambulatorium, das als Drehscheibe für stationäre Einrichtungen fungiert. Dort kommen auch die meisten Anfragen für ein Erstgespräch telefonisch oder über die E-Mail an. Komplexe Fälle werden von Ärzt*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiterinnen gemeinsam betreut. Wir entscheiden dann gemeinsam mit den Patient*innen, ob eine Entgiftung ambulant oder im Krankenhaus erfolgen sollte und welche Rehabilitationsmaßnahmen nach einer Entgiftung von maximal einer Woche sinnvoll sind. Die meisten Patient*innen entscheiden sich für ambulante Therapie, da man diese in den normalen Alltag integrieren kann. Sollte es jedoch sinnvoller sein, einen geschützten Rahmen abseits des oft belastenden Alltags zu wählen, überweisen wir in stationäre Einrichtungen wie Bad Bachgart oder die Therapiegemeinschaft HANDS. Nach der Entlassung nach zwei bis drei Monaten wird die Therapie dann ambulant im Ambulatorium fortgeführt.

    Darüber hinaus bietet HANDS in Bozen auch eine Tageseinrichtung für Menschen an, die psychosozial und auch gesundheitlich etwas am Rande stehen. Angehörige einer gefährdeten oder bereits erkrankten Person haben zudem die Möglichkeit, Gespräche zu führen, auch wenn die Person mit dem Problem sich gar nicht behandeln lassen möchte.

     

    „Es ist schon ein Erfolg, wenn eine Person Hilfe sucht.“

     

    Wie erfolgreich sind die Behandlungen?

    Es ist schon ein Erfolg, wenn eine Person Hilfe sucht. Die Ziele für eine gelungene Therapie müssen mit den Patient*innen auf Augenhöhe vereinbart werden. Etwa 80% profitieren von der Therapie, auch wenn es später zu Rückfällen kommt. Das Vertrauensverhältnis und die Beziehung zu den Patient*innen ist entscheidend, und viele kommen schnell und ohne ungute Schamgefühle wieder, wenn sie einen Rückfall gehabt haben oder befürchten. Die Behandlungsdauer und -erfolge sind sehr individuell. Jeder Mensch hat seine besondere Geschichte und somit auch seine besondere Behandlung, die nur seiner Person gerecht wird.

  • Kontakt:

    Wenn Sie selbst Unterstützung benötigen oder jemanden kennen, der Hilfe sucht, kann sich telefonisch oder per E-Mail zu melden. Sie sind nicht allein – es gibt immer einen Weg, Hilfe zu bekommen.

    Nummer 0471/27 09 24

    E-Mail [email protected]