Gesellschaft | 60 Jahre Kinderdorf

Wenn Familie nicht funktioniert

Über verhaltensauffällige Kinder und Störungen in den Familien, über die ausgebliebenen Spenden und darüber wie sich die Kinderdorf-Arbeit in 60 Jahren verändert hat.

„Wir versuchen nicht, die besseren Eltern zu sein,“ stellt Heinz Senoner, Direktor des Südtiroler Kinderdorfes klar. Das sei eine der falsch verstandenen Meinungen, die es in der Öffentlichkeit über jene Einrichtung gibt, die 2015 und 2016 ihr 60-jähriges Bestehen feiert, und längst nicht mehr nur „arme Kinder“ betreut. „Ebenso hartnäckig wird bei uns nachgefragt, wieviele Waisenkinder derzeit bei uns leben, gerade kürzlich stand das wieder in der Zeitung. Ich sage es hier gerne noch einmal, wir haben keine Waisen bei uns, wir sind eine Einrichtung die Kindern und Jugendlichen vorübergehend Schutz und Heimat gibt.“  

Heinz Senonen weiß von den Imageproblemen des Südtiroler Kinderdorfes und will gerade das Jubiläumsjahr nutzen, um der Öffentlichkeit die verschiedenen Tätigkeitsfelder und Betreuungsangebote des Kinderdorfes näherzubringen. Anfang Oktober beging man gemeinsam mit ehemaligen Kinderdorf-Kindern ein großes Fest, Mitarbeiter, Spender und Ehrengäste waren geladen. „Auch im nächsten Jahr planen wir weitere Veranstaltungen, solche, die sich vor allem mit den neuen sozialpädagogischen Erkenntnissen, mit Achtsamkeit und Empathie auseinandersetzen.“

Das Kinderdorf von heute ist nicht mehr zu vergleichen mit jenem vor 60 Jahren, oder auch nur vor 30 oder 20 Jahren. „Im Jahr 2000 wurde das Gesetz zur Fremdunterbringung vom italienischen Staat neu geregelt,“ erläutert Direktor Senoner. Darin wurde die Dauer neu festgelegt: Nicht länger als 2 Jahre dürften Kinder und Jugendliche demnach in familienfremden Einrichtungen stationiert werden, in Ausnahmefällen kann es auch länger sein. „Das sehen Fachleute natürlich unterschiedlich,“ wirft Senoner ein, „denn es kann durchaus der Fall sein, dass Kinder eine länger andauernde stabile Situation brauchen, und die können wir anbieten.“ Andererseits sei man durch die Reform auch „gezwungen“, den Kontakt mit den Eltern zu pflegen, und dafür zu sorgen, dass das Kind wieder in seine Familie zurückkann.

Wenn Familie nicht funktioniert, dann ist sehr schnell Scham da.

Heinz Senoner ist überzeugt, dass die Verhaltensauffälligkeiten von Kindern immer auf Störungen im Familiensystem zurückzuführen sind. „Wir glauben nur zu gerne, dass das Kind etwas hat, dass es hyperaktiv ist, oder einnässt oder sonst eine Auffälligkeit zeigt, und wir also das Kind behandeln und besser betreuen müssten.“ Das stimmt so nicht, sagt Senoner, das Kind mache auf ein Problem im Familiensystem aufmerksam, es reagiere auf familiäre Umständen. „Diese müssen gar nicht immer nur in der Kernfamilie da sein, oft sind es generationenübergreifende und niemals angesprochene Misstände.“ Dass Familien in solchen Fällen Hilfe von außen benötigen und dies auch erkennen, sei bereits der erste Schritt in Richtung Lösung. „Ich weiß aber auch, dass diese Dinge oft mit Scham behaftet sind und dass man sich erst einmal abschottet und Hilfe abwehrt.“

Deshalb gibt es seit 2007 die sogenannte Aufsuchende Familienarbeit. „Wir betreuen derzeit allein im Raum Eisacktal 35 Familien auf diese Weise,“ so Senoner. Das ist nicht wenig. Alles in allem sind es 100 Personen, manchmal Alleinerziehende die Unterstützung von außen brauchen, oft auch die ganze Großfamilie. „Es geht dabei nicht um ökonomische Not oder dass keine Eltern da sind, sondern wir helfen, Elternschaft besser wahrzunehmen, wir fahren zu den Leuten hin und besprechen die Probleme vor Ort.“

Keine "Stille Hilfe" mehr!

Derzeit gibt es diese aufsuchende Familienarbeit nur im Eisacktal, das Kinderdorf arbeitet hier mit der Bezirksgemeinschaft zusammen. „Wir würden diese Arbeit gerne ausweiten, doch unsere finanziellen Mittel lassen das nicht zu.“ Die Spenden für das Kinderdorf haben in den letzten Jahren deutlich abgenommen, und damit seien viele Dienste, die in den finanzkräftigeren 1990er Jahren aufgebaut wurden, nicht mehr haltbar. „Vor allem die Spenden aus dem deutschsprachigen Ausland fehlen uns sehr“, gesteht Heinz Senoner, „auch wenn ich die Gründe dafür kenne und anerkenne.“ Man sei eben nicht mehr die deutschsprachige unterentwickelte Provinz, die von der „Stillen Hilfe“ kräftig unterstützt wurde. „Auch das hat uns sicherlich Imageprobleme bereitet, die Affäre Bletschacher und die ganze volkstumspolitische Note die mit der Stillen Hilfe einherging.“

Es gibt noch eine einzige Kinderdorf-Mutter, sonst wird im Team betreut.

Es brauche ein Umdenken im Sozialwesen, ist Heinz Senoner überzeugt. Die Spenden für lokale Einrichtungen fließen immer weniger, aber die Arbeit werde mehr. Neben den vier familiären Wohngruppen in Brixen mit Kindern von 0 bis 12 Jahren sowie 4 sozialpädagogischen Jugendwohngemeinschaften von 12 bis 21 Jahren gibt es noch das Haus Rainegg für alleinerziehende Mütter und das Therapie Center. „Unsere Arbeit hat sich schon stark verändert,“ gibt Heinz Senoner zu bedenken, „das Kinderdorf bietet nach wie vor Schutz in schwierigen Lebenssituationen, aber fast noch mehr sorgen wir jetzt dafür, dass es allen Beteiligten auch wieder besser geht. Als Individuen und in der Familie.“  

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Michael Bockhorni Sa., 10.10.2015 - 22:17

wieso aufsuchende Familienarbeit nur im Eisacktal? Wieso ist im Musterland Südtirol die Ausweitung dieser wichtigen Familiensozialarbeit von (ausländischen) Spenden abhängig?

Sa., 10.10.2015 - 22:17 Permalink