"Was ist eine Sprache ohne Literatur?"
salto.bz: Gratulation zum Sieg bei "wirsindlesenswert". Wann haben Sie Ihr erstes Gedicht geschrieben?
Nadia Rungger: Das ist sehr schwierig zu definieren. Ich habe mit Kurzgeschichten angefangen. Bewusst habe ich vermehrt Ende 2016 begonnen, Gedichte zu schreiben. Aber was ist ein Gedicht? Manchmal lese ich ältere Geschichten von mir durch, die nie eine andere Leserin hatten als mich selbst, und denke: wenn man die zwei Zeilen herausnimmt und für sich stehen lässt, ist es ein Gedicht. Ich habe gemerkt, dass man die Sätze voneinander trennen kann, und dass jeder für sich stehen wollte und konnte. Man muss den Worten zutrauen, dass sie das können.
Vielleicht kann ich also sagen, mein erstes Gedicht war eine Erzählung.
Für mich hängen diese Formen sehr eng zusammen und die Grenzen sind fließend. Ich baue auch in Erzählungen zum Beispiel gerne Sprachspiele ein, oder andere lyrische Elemente. Im Gegenzug zeigen die Gedichte oft auch eine Handlung auf.
Viel zu
so ein Morgen ist schon
wenn man so in der Küche sitzt
und nicht recht weiß
warum
vier Gabeln
dabei wohnt man
allein[...]
(Auszug aus dem preisgekrönten Gedicht)
Vor kurzem ist Ihr Buch "Das Blatt mit den Lösungen" erschienen. In welchem Zeitraum ist es entstanden?
Vor mehr als einem Jahr verspürte ich den Wunsch, meine Texte in einem Buch zu versammeln. Die meisten Texte waren bereits veröffentlicht – in Literaturzeitschriften oder Anthologien von Literaturpreisen. Nur waren diese Veröffentlichungen in verschiedenen Büchern zerstreut. Vor langer Zeit fragte mich einmal jemand aus dem Publikum nach einer Lesung, wo man denn meine Texte lesen könnte. Diese Frage ehrte mich und so fasste ich den Entschluss, es zu versuchen: eine eigene erste Publikation.
Natürlich war es – einerseits als junge Autorin, andererseits mit Erzählungen und Lyrik – nicht immer sehr einfach. Und ab und zu habe ich auch gehört: ein Roman ließe sich besser vermarkten. Aber hier muss ich sagen: Das finde ich aus heutiger Perspektive nicht. Ich glaube, Leser*innen haben Erzählungen und Gedichte genauso gern.
Es war mir ein wichtiges Anliegen, Prosa und Lyrik in einem Band zu veröffentlichen. Der Verlag A. Weger hat mein Projekt von Anfang an mit Begeisterung aufgenommen, mich unterstützt und mir gleichzeitig beim Gestalten des Buches viel Freiraum gelassen, wofür ich sehr dankbar bin. Ich habe einmal geschrieben: „Worte brauchen keinen Platz. Sie schaffen Raum.“ Und es stimmt – Worte schaffen Raum. Und was für einen! Aber: Sie brauchen auch Platz. Und ich bin sehr froh, dass meine Worte einen Platz gefunden haben.
Von der Idee bis zum fertigen Buch ist mehr als ein Jahr vergangen. Ich habe die Texte geordnet – die älteste Geschichte ist von 2015, die neuesten Gedichte aus dem Frühjahr 2020 – und die üblichen Prozesse wie Lektorat und Satz (Frei&Zeit) durchlaufen. Es war für mich eine arbeitsintensive und spannende Zeit.
Allein oder gemeinsam? Sie sind Gründungsmitglieder des literarischen Kollektivs „Glühbirne“. Schreiben ist aber ja gewöhnlich ein einsamer Prozess..., wie geht bei Ihnen beides zusammen?
Natürlich ist Schreiben meistens eine Tätigkeit, die man alleine ausübt. Aber einsam? Vielleicht schreibt man manchmal aus dem inneren Gefühl der Einsamkeit heraus, aber Schreiben an sich ist nicht einsam für mich. Ich schreibe manchmal gerne an Orten, wo Menschen um mich sind, in Cafés oder in Zügen. Mein Schreiben hat viel mit Menschen zu tun, mit Beziehungen, mit dem Alltag. Und schließlich ist Schreiben nicht einsam, wenn ich meine Texte mit anderen teilen kann.
Ja, ich bin Gründungsmitglied des Autorinnenkollektivs Die Glühbirne, und kürzlich ist auch unsere erste Anthologie bei Edition Raetia in der Reihe ZOOM – ED erschienen, was für unser Kollektiv ein wunderbarer, großer Schritt ist! Die Gruppe ist ein schöner Raum, um sich auszutauschen, gegenseitig erste Entwürfe von Texten vorzulesen und erste Rückmeldungen zu bekommen und zu geben.
Welche Rolle spielt das Ladinische in Ihrem noch jungen literarischen Schaffenswerk?
Ladinisch ist meine Muttersprache. Ich schreibe zwar hauptsächlich auf Deutsch, aber doch auch einiges in ladinischer Sprache. Das ladinische Schreiben fühlt sich in gewisser Weise anders an, vielleicht näher, da es meine Muttersprache ist. Natürlich denke ich auch an den Rahmen, und die ladinische Sprache ist eine kleine Sprache. Hier würde ich mir wünschen, dass es bessere Förderungen von Ladinischer Literatur gibt und dass die Strukturen, die es bereits gibt, weiter ausgebaut werden – denn was ist eine Sprache ohne Literatur? Und, sehr wichtig: Dass Ladinische Literatur auf Deutsch und Italienisch übersetzt wird. Nur so kann sie über ihre sprachlichen Grenzen hinaus wahrgenommen werden.
Ich sehe diese Mehrsprachigkeit als großen Vorteil beim Schreiben. Sich in zwei Sprachen heimisch zu fühlen und in zwei Sprachen ausdrücken zu können ist unglaublich bereichernd. Vor allem in der Lyrik, denke ich, hat es mich beeinflusst. Ich spiele gerne mit den Worten, mit dem Sinn und mit dem Klang der Wörter, ich trenne die Wörter, spalte sie auf und schaue, was die Buchstaben, die von ihnen übrigbleiben, mir eigentlich noch sagen. Bestimmt hat die Fähigkeit, in zwei Sprachen zu denken, zwei und mehr verschiedene grammatische Strukturen zu kennen und zu verwenden, dieses Spiel mit Sprache bestärkt.