Politik | Urbanistik

Urbanistische Selbstbestimmung

Die SVP versucht seit Jahren mit allen Mitteln die urbanistischen Standards des Staates im Bereich der Gebäudeabstände aufzuweichen. Jetzt arbeitet man zweigleisig.

Die Durchführungsbestimmung ist genau 11 Zeilen lang. In diesen elf Zeilen steckt aber die größte Urbanistikreform, die Südtirol jemals erlebt hat. Denn die Durchführungsbestimmung führt die Selbstbestimmung in der Urbanistik ein.
Zwei Jahre lang debattierte man in der Sechser- und Zwölferkommission hin und her. Treibende Kraft dabei ist die SVP und ihre Vertreter­. Unterstützt von den Trentiner Regierungspartnern.
Das Ziel der Aktion: Südtirol und das Trentino sollen urbanistische Regeln einführen können, die es sonst nirgendwo in Italien gibt. Aber nicht etwa strenger, sondern das Gegenteil. So soll ein Teil der Standards, die im italienischen Zivilgesetzbuch festgelegt werden, in den zwei autonomen Provinzen keine Gültigkeit mehr haben.

In diesen elf Zeilen steckt aber die größte Urbanistikreform, die Südtirol jemals erlebt hat.

Die Durchführungsbestimmung sieht vor, dass die Länder durch eigene Gesetze, die Baudichte, die Bauhöhe und die Abstände zwischen Gebäuden festlegen können. Ebenso sollen Südtirol und das Trentino die Kriterien für die Ausweisung und die Aufteilung von Wohnzonen, Gewerbezonen, öffentlichen Einrichtungen, Parkplätzen und öffentlichem Grün völlig autonom regeln können. Zudem will man auch die Sicherheitsabstände der Bauten zu Straßen und Verkehrsverbindungen in Zukunft autonom und selbstständig lösen.

Geplante Durchführungsbestimmung: Südtirol ist nicht mehr Italien

Südtiroler Zivilgesetz?

Die geplante Durchführungsbestimmung greift zu weiten Teilen in jene Bereiche ein, die durch das italienische Zivilgesetzbuch geregelt sind. Dort sind zum Beispiel die Gebäudeabstände genau geregelt.
Gerade hier hat es in Südtirol in den vergangenen Jahren immer wieder Probleme gegeben. Jahrzehntelang hat man zwischen Salurn und dem Brenner einfach eigene, kreative Lösungen umgesetzt.
So gibt es etwa in der Landwirtschaft hunderte Fälle, wo man die vorgeschriebenen Gebäudeabstände nicht eingehalten hat. Aber auch die öffentliche Hand hat bei mehreren Bauten einfach so getan, als gäbe es die Bestimmungen im Zivilgesetzbuch nicht. Etwa beim Bau des Museions in Bozen.
Im Jahr 2012 hat der Verfassungsgerichtshof aber eindeutig festgelegt hat, dass man auch in Südtirol die im Zivilgesetz festgelegten Abstände einhalten muss. Und sie nicht per Landesgesetz oder Gemeindeverordnung aufweichen kann.
Seitdem will man politisch den Schaden begrenzen. Seit Jahren versucht der Meraner SVP-Senator und Anwalt Karl Zeller in Rom die Südtiroler Freizügigkeit in der Urbanistik festzuschreiben.

Skeptische Ministerien

Doch lange Zeit ging wenig weiter. Der Grund: Für jede Durchführungsbestimmungen müssen die zuständigen Ministerien Gutachten und Sachverhaltsdarstellungen abgeben. Doch diese sind zur geplanten Durchführungsbestimmung verständlicherweise fast alle negativ ausgefallen. Zudem gibt es in der Sechser- und Zwölferkommission einige Mitglieder, die die geplante Regelung für unverantwortlich und falsch halten. Etwa der Bozner Senator Francesco Palermo.
Am 18. November 2015 verabschiedete die Zwölferkommission trotzdem mehrheitlich den von Lorenzo Dellai vorlegten Text. Palermo war bei der Abstimmung nicht anwesend. Jetzt liegt die Durchführungsbestimmung im Ministerrat zur Behandlung. Die große Frage: Auf wen hört der Ministerrat? Auf die SVP-PD-Phalanx oder auf die eigenen Beamten?

Die zweite Front

Weil die SVP den römischen Ministerien aber anscheinend nicht ganz traut, hat man im Herbst 2015 einen zweiten Anlauf auf einer anderen Ebene gemacht. Am 9. Oktober 2015 haben die SVP-Abgeordneten Manfred Schullian, Daniel Alfreider, Renate Gebhard, Albrecht Plangger sowie der Trentiner PATT-Abgeordnete Mauro Ottobre und der Aostaner Stella Alpina-Abgeordnete Rudi Marguerettaz in der Kammer einen Gesetzesvorschlag eingereicht, um das Zivilgesetzbuch zu ändern. Abgeändert werden sollen ausschließlich zwei Artikel, die die Abstände zwischen Gebäuden und Grundstückgrenzen festlegen.

SVP-Gesetzentwurf: Zustände wie in Neapel

Bei den Abständen wird im Zivilgesetzbuch bei Gebäuden ein Minimum von drei Metern vorgeschrieben. Mit dem SVP-Vorschlag sollen Land und Gemeinden davon abweichen können. Also auch näher an die Grundstückgrenze bauen können. Zudem will man mit dem Vorschlag einführen, dass Neubauten auch bis auf die Grundstücksgrenze gebaut werden dürfen.
Die Zielrichtung ist klar: Der Südtiroler Wildwuchs in Sachen Urbanistik soll eine rechtliche Grundlage ausgerechnet im italienischen Zivilgesetzbuch finden. „Wir werden damit Zustände bekommen, die schlimmer sind als die Situation in Neapel“, ist ein bekannter Südtiroler Urbanist entsetzt.
Was noch brisanter ist: Die beiden politischen Hauptakteure dieser Vorstöße, Karl Zeller und Manfred Schullian, sind gleichzeitig auch Anwälte, die im Bereich Urbanistik in Südtirol als erste Ansprechpartner gelten. 
Ob es in einigen Fällen, die sie vertreten, dabei auch um jene Standards geht, die man jetzt für Südtirol ändern will?