Wir (ver)brauchen Zuwanderung
Den folgenden - etwas drastischen - Beitrag habe ich vor drei Jahren verfasst, als der Strom aus dem Süden ebenfalls in aller Munde war. Die ansonsten so wichtige Unterscheidung zwischen Zuwanderung und Asyl thematisiere ich in dem Aufsatz bewusst nicht, da das darunter liegende Prinzip (Armut, Ungleichverteilung, Konflikt usw.), welches ich aufgreife, umfassender ist.
Nachdem ich einmal mehr über den Namen Warren Buffett im Zusammenhang mit Philanthropie gestolpert bin, Jean Ziegler unlängst in Südtirol weilte und pérvasion mich mit seinem Radikalvorschlag binnen 50 Jahren die Freizügigkeit des Personenverkehrs weltweit umzusetzen um die Ungerechtigkeit zu beseitigen begeisterte, möchte ich einen Widerspruch aufgreifen, der in der momentanen Migrations- und Integrationsdebatte anscheinend überhaupt nicht beleuchtet wird und dessen Präsenz so gut wie niemandem aufzufallen geschweige denn jemanden zu stören scheint.
Es sei mir erlaubt, zuvor jedoch ein wenig auszuholen:
Warren Buffett ist Investor. Durch das Verschieben von Geld und Aktienpaketen hat er 45 Milliarden Dollar angehäuft und gilt als drittreichster Mann der Welt. Buffett hat nichts Großartiges erfunden oder produziert. Er hatte einfach nur – wie man so schön sagt – ein gutes Näschen. Durch die ungeheuren Summen, die da verschoben wurden und immer noch werden, hatte sein Tun jedoch unweigerlich Einfluss auf die Lebenswirklichkeit zehntausender Menschen auf der ganzen Welt. Einige wenige wurden mit und durch Buffett unermesslich reich, während viele andere durch sein Handeln ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Heute wird der 80-Jährige als Philanthrop gefeiert, weil er angekündigt hat, 99 Prozent seines Vermögens wohltätigen Zwecken zukommen lassen zu wollen.
Irgendwie erinnert mich dieser Warren Buffett immer an – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – „den Westen“, die Industrienationen, an uns sozusagen, wenn es um die Bekämpfung der Armut und der Ungerechtigkeit in der Welt geht. In diesem Zusammenhang hat der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, folgenden mittlerweile berühmten Satz geprägt: „Es kommt nicht darauf an, den Menschen der Dritten Welt mehr zu geben, sondern ihnen weniger zu stehlen“. Genau das denke ich mir wieder und wieder, wenn ich vom Gefeilsche um BIP-Abgabequoten auf so genannten Konferenzen zur Entwicklungsfinanzierung höre. Und genau das habe ich mir auch gedacht, als ich mehr hilflos als arrogant, den zig bettelnden Kindern in Kambodscha, Indien oder Vietnam einen Dollar Almosen verweigerte.
Solange die EU die hiesige Agrarwirtschaft mit hunderten Milliarden subventioniert und dadurch die vom Primärsektor geprägte Wirtschaft in den südlicher gelegenen Ländern ruiniert, solange durch unser Konsumverhalten die aufgrund der Beliebtheit der Hühnerbrüste überflüssigen Hühnerflügel und -schenkel zu Ramschpreisen auf afrikanischen Märkten landen und dadurch die dortigen Bauern mit ihrer frischen Ware gegenüber den verdorbenen Abfällen aus Europa das Nachsehen haben, solange im Namen US-amerikanischer Saatgutfirmen ganze Landstriche in Südamerika mit Monokulturen wie Soja, Futtermais und Ölpalmen ausgelaugt werden, während daneben Menschen verhungern, … (diese Liste ließe sich endlos weiterführen), solange ist die scheinbare Philanthropie des Westens, sind die Schuldenerlässe und die Entwicklungshilfe reiner Zynismus.
Dass man den Zynismus und schlussendlich die Menschenverachtung allerdings noch weiter treiben kann, zeigt die derzeit laufende und durch oben genannte Umstände begünstige massive Wanderbewegung, die auf sämtlichen Kanälen, in sämtlichen europäischen Staaten, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit allabendlich diskutiert wird und wo sich Politiker wie Experten – einer um den anderen – mit fadenscheinigen Weisheiten hervortun. Und es dauert auch meist nicht lange, dann kommt jener Satz, auf den ich jedes Mal wieder gespannt warte und der mich ob seiner Unverfrorenheit jedes Mal wieder aufs Neue verblüfft: „Wir brauchen Zuwanderung“. Diesbezüglich sind sich ja zwischenzeitlich beinahe alle einig. Bis auf ein paar rechtsextremistische Wirrköpfe, die Zuwanderung prinzipiell aus niedrigsten – weil rassistischen und nationalistischen – Gründen ablehnen, tönt es von der Sozialdemokratie, über die Konservativen bis hin zu den Grünen: „Wir brauchen Zuwanderung“. Die einen wollen damit das Pensionssystem retten, die anderen sehen einen Fachkräftemangel der Wirtschaft bei den Höherqualifizierten und wieder andere stehen einfach nach wie vor auf „Mulitkulti“. Kaum einen scheint es zu stören, ja niemand will es bemerken, dass dieser Satz in bester europäischer Ausbeutertradition steht. Egoismus pur. Rücksichtslosigkeit par excellence. “Wir brauchen” – also holen wir es uns. Ob das dem Geholten auch zum Vorteil gereicht ist dabei einerlei.
Erinnern wir uns zurück, was Europa und später die USA bereits alles gebraucht haben. Im Selbstbedienungsladen Afrika holte man sich zugleich mit den billigen Arbeitskräften, weil Sklaven, auch gleich dessen Rohstoffe. Auch brauchten wir Siedlungsland, welches wir in Nord- und Südamerika sowie in Australien fanden und uns zu Eigen machten, obwohl eigentlich schon jemand anderer dort war. Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckten wir dann Asien als schier endloses Reservoir an Humankapital. Erst machten die lieben Türken und Pakistaner die Drecksarbeit bei uns, dann brachten wir – weil’s einfacher ist und weniger Probleme bringt – die Drecksarbeit zu ihnen. Somit sparten wir uns die lästigen Umweltauflagen, die noch lästigere Integration und die stinkenden Abgase der Fabriken und hässlichen grauen Produktionshallen verschandelten fortan auch nicht mehr unser idyllisches Landschaftsbild. Nicht wenige brauchten eine Frau und holten sie sich in Thailand. Schließlich wird “unser Öl” im Nahen Osten noch mit Kriegsgewalt verteidigt und der Farmer in Brasilien gezwungen den Regenwald zu roden um unser Futtermittel und unseren Biotreibstoff anzubauen. Überspitzt ausgedrückt: Land, Arbeitskraft und Rohstoffe haben wir uns bereits genommen, jetzt holen wir uns auch noch das Hirn und die Gebärmutter.
Und ich höre schon, wie es mir entgegenschallt: “Aber das kann man nicht vergleichen. Zuwanderung ist doch ein Austausch, das ist Symbiose!” Auf individueller Ebene mag das stimmen. Der amerikanische Computerkonzern profitiert vom indischen Softwareentwickler und dieser freut sich über den höheren Lohn, den er erhält und die tolle Lebensqualität, die er genießt. Aber auf gesellschaftlicher Ebene sieht die Bilanz ganz anders aus. Die führenden, ohnehin schon reichen Gesellschaften gewinnen, die Gesellschaft im Herkunftsland der Zuwanderer verliert. Das ist nicht symbiotisch sondern parasitär. Denn einmal abgesehen von zehntausenden bewaffneten “Friedens- und Freiheitsbringern” ist mir nicht bekannt, dass Scharen aus Europa und den USA in die Gegenrichtung nach Afghanistan, Pakistan oder den Irak ziehen. Europa und die Vereinigten Staaten sind für einen Brain-Drain verantwortlich, der die Entwicklung der betroffenen Länder bereits jetzt nachhaltig schädigt. Und den Aussagen der Politiker zufolge soll dieser Hirnschmalzabfluss nun auch noch gezielt gefördert werden.
Die “qualifizierte Zuwanderung” von Facharbeitern ist schlichtweg unlauterer Wettbewerb. Die Industrienationen gleichen die Defizite ihrer Bildungssysteme, welche nicht nach dem notwendigen Bedarf Absolventen ausspucken, dadurch aus, indem sie ihre “Strahlkraft” in Form ihres erstohlenen Wettbewerbsvorteils insofern ausnützen, als dass sie die Entwicklungsländer genau dort treffen, wo es wirklich weh tut. An Arbeitskräften für die Produktion, Land und Rohstoffen mangelt es diesen ja meist nicht, sehr wohl aber am Know-how. Und das wenige wird ihnen durch den Brain-Drain der “qualifizierten Zu- bzw. Abwanderung” genommen.
Das systemimmanente Versagen unseres Pensionssystems durch Zuwanderung abfedern zu wollen, ist hingegen nicht nur dumm, sondern im höchsten Maße unmoralisch. Eine Gesellschaft, die sich durch die natürliche Geburtenrate nicht mehr selbst reproduziert und trotz höherer Lebenserwartung das Pensionsantrittsalter nicht der selbigen anpasst, hat ein gesellschaftliches und systemisches Problem, für dessen Lösung Maßnahmen getroffen und nicht bloß Symptome bekämpft werden müssen. Da sich die Geburtenrate bei Zuwanderern, wenn sie in der zweiten Generation bei uns sind und ein dem durchschnittlichen Einheimischen ähnliches Bildungsniveau aufweisen, immer mehr jener der “westlichen” Bevölkerung anpasst, ergibt sich ein Teufelskreis und die immer wieder benötigten “frischen” Zuwanderer werden de facto zu Gebärmaschinen degradiert. Sobald die Integration nämlich einigermaßen glückt und die von allen geforderte Bildung auch bei den Zuwanderern greift (was sich ja alle wünschen), sinkt auch deren Geburtenrate und deren Motivation, die Drecksarbeit zu erledigen und das Spiel beginnt von vorne, mit einer neuen ungebildeten, unterprivilegierten Zuwandererschicht.
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nur eins verstehe ich nicht, und ich hab's wirklich versucht: Wie kann uns dieses Wissen (Erkenntnis) helfen, die doch zahlreichen "praktischen" Schwierigkeiten "vor Ort" in den Griff zu bekommen? Was habe ich übersehen oder nicht verstanden, wo liege ich falsch? Denn ich fürchte, das nutzt alles recht wenig, solange wir hier ganz unten nicht verinnerlicht haben, dass wir schlicht und einfach Teil des von dir beschriebenen "Systems" und somit mit-verantwortlich sind, jedeR einzelne, und dementsprechend handeln/überlegen, jedeR einzelne?!
Antwort auf Gefällt mir von Sylvia Rier
präzisierung
ich versteh jetzt nicht ganz worauf du dich beziehst.
Antwort auf Gefällt mir von Sylvia Rier
Silvia interpretiert
Silvia interpretiert wahrscheinlich wieder... weil du für die Unabhängigkeit bist, musst du ja (aus ihrer Sicht) auch für Abschottung, Egoismus usw. sein!? ;)
Frage der Perspektive
Auf den Punkt gebracht, Harald, bravo.
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Ich maße mir das Urteil zu, dass viele technische Universitäten beispielsweise in Indien über dem europäischen Durchschnittsniveau liegen. Auch haben die derart gebildeten Indien wesentlich bessere Sprachkenntnisse als noch vor 10 Jahren: Deutschkenntnisse sind gar nicht so unüblich.
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Sagen wir, ein junger hochgebildeter Inder hätte die Wahl nach Boston, nach München oder nach Bozen zu ziehen. Englisch kann er sowieso und in Boston ist nicht nur das Gehaltsniveau am höchsten, sondern auch die Akzeptanz von Auswärtigen. In der Berufswelt Münchens kann man sich als hochspezialisierte Fachkraft zur Not auch mit Englisch durchschlagen, aber im privaten Umfeld schaut das schnell anders aus. Vermutlich kommt *mann* nicht alleine, sondern hat zwecks Familengründung auch noch die bessere Hälfte, die natürlich ein Großcousin auserwählt hatte, im "Gepäck". Natürlich findet die Holde in München keinen gesellschaftlichen Anschluss, wenn sie nicht die vierte Sprache erlernt. Ja die vierte, denn die indische Lokalsprache des/r jeweiligen Bundeslandes/Volksgruppe, die indische Einheitssprache und Englisch kann sie natürlich schon.
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Entscheidet sich das Pärchen aber für Bozen, bedarf es natürlich des Deutschen, des Italienischen und klar auch des Dialektes, um integriert zu werden. Auch wenn jetzt sechs Sprachen perfekt beherrscht würden, wie wohl dürfte sich das Pärchen bei uns fühlen? Hört es ein Danke für die hochqualifizierte Arbeitskraft oder für die Pensionsrettung oder für die Geburtenrate? Was für ein Witz! Und wie traurig.
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Wollen wir uns also mit klugen Köpfen weltweit vernetzen, gilt für uns Südtiroler eins: hinaus in die Welt, bei uns gibt es nämlich nur Inzucht. Aber in der Welt, da sind wir bestenfalls mittelqualifizierte Immigranten, bringen schon einmal unser Familienpack mit und unsere Dialekt-, Italienisch- oder evtl. Ladinischkenntnisse jucken keine Sau. Und wenn wir dann genug Kohle beisammen haben, kaufen wir uns ein Höfl auf irgendeinem südtiroler Sonnenhang - zum Ärger der Dableiber, versteht sich.
@ benno
mit deinem indien-beispiel liegst du im prinzip schon richtig. aber: ich habe viele - nenne wir sie mal "schwellenländer" bereist (brasilien, indien, russland, china, vietnam, indonesien, thailand, chile, argentinien, türkei usw.). es stimmt, dass man dort das gefühl hat, dass aufbruchstimmung herrscht. es gibt auch sehr viele top-ausgebildete leute. die wirtschaft wächst. das problem, das ich allerdings sehe ist, dass die dort sich mittlerweile zögerlich entwickelnde mittelschicht nicht vom fleck kommt. es profitieren nur ganz wenige. der großteil siecht dahin. wachstum und wohlstand im nachkriegseuropa gründeten auf der starken mittelschicht. die "schwellenländer" lassen diesen "zwischenschritt" aus und gehen übergangslos in eine gesellschaft über, in der die schere (bildung, geld) immer schneller und weiter auseinanderklafft. die tendenz ist ja auch bei uns sehr stark, doch die mittelschicht wehrt sich. in den "schwellenländern" gibt es niemanden, der sich wehrt und bildung und geld fließen daher in sehr sehr enge kanäle, in denen nur ein paar auserwählte profitieren.
und weil dir dieser text so gut gefällt, schieß ich gleich noch einen nach: http://www.salto.bz/de/article/11102013/entwicklungshilfe-ist-kein-scho…
Antwort auf @ benno von Harald Knoflach
So viele
Wenn man sich in Technologiezentren wie Bengaluru (von den Engländern einst Bangalore genannt) bewegt, dann kann man nur staunen, wie viele Tausende von Menschen auf dem Hype schweben und von der Entwicklung profitieren. Unglaublich! Mit Begriffen wie "ein paar Auserwählte" erzeugt man ein falsches Bild, denke ich, zumindest wenn es um qualifizierte Zuwanderung geht. Nur hat Indien halt über eine Milliarde Menschen. China ist da nicht anders und die 200 Millionen Brasilianer sind ja auch schon unvorstellbar viele, wenn man sich den Stau auf der Brennerautobahn vergegenwärtigt, den die Urlauber des 'nur' 82Mio-Landes Deutschland verursachen. Da hast Du schon Recht, auch die tausende Profiteure sind nur ein Bruchteil der Gesamtbevölkerung und da ist "Schere" ein nicht ausreichender Begriff, wenn man den erbärmlichen Zustand des Restes beschreiben muss. Aber lass mich die Aufmerksamkeit wieder auf Afrika lenken, den Ertrunkenen geschuldet, wo viele Länder eine Einwohnerzahl haben, die mit Südkorea vergleichbar ist, die uns aber nicht mit Kias, Hyundais, LGs und Galaxies Konkurrenz machen. Warum eigentlich nicht? Da drückt der Schuh wohl am meisten.
Antwort auf @ benno von Harald Knoflach
eben
selbst eine million sind in indien ja nicht einmal jeder tausendste. diese relationen muss man schon sehen. und abseits der technologiezentren ist das verhältnis noch schlechter. afrika war ich leider noch nie, da kann ich wenig dazu sagen. ich meine jetzt, was die situation vor ort betrifft.