Kultur | Salto Afternoon

Den Blick nicht abwenden

„Impronte dell’anima“ das bereits vor zehn Jahren Beachtung fand, hat wieder Anlauf auf die Bühnen Südtirols genommen. Die Premiere in neuer Besetzung überzeugte gestern.
Impronte dell'anima
Foto: Luca Del Pia
Es ist ein beklemmendes Stück - was so sein muss - bei dem es immer wieder gilt, den Blicken der Schauspieler:innen stand zu halten: Wegschauen ist, bei der speziellen, etwas beengenden Konstellation zwischen Publikum und Bühnenraum ohnehin kaum möglich. Zwei dreistufige Tribünen auf welchen man dicht an dicht sitzt (es empfiehlt sich mehr als sonst eine Maske mitzubringen, Pflicht gilt keine) und welche das Geschehen beidseitig flankieren sorgen dafür, dass man „Impronte dell’anima“ ausgeliefert ist. Das Teatro Stabile di Bolzano und das Teatro La Ribalta - Kunst der Vielfalt haben damit, durch Roberto Banci, die wirkungsvollste Bühne geschaffen.
Neun Schauspieler, drei ohne und sechs mit Beeinträchtigung, in Rollen, die wechseln und ihnen einiges abverlangen (Mathias Dallinger, Johannes Notdurfter, Michael Untertrifaller, Maria Magdolna Johannes, Stefania Mazzilli Muratori und Edoardo Fattor überzeugen durch ihr Schauspiel und ihren Mut), setzen sich mit den Themen Eugenetik und Euthanasie im Dritten Reich auseinander. Wir beginnen wie wir enden, mit einer Krankenschwester (Paola Guerra) welche den Bühnenboden reinigt, was sie auch während des Stückes mehrfach versucht. Fast unhörbar leise singt sie Doch was hier erzählt wird, lässt sich nicht einfach wegwischen. Es bleibt als Schlieren, oder im Scheinwerferlicht tanzender Kreidestaub präsent. Man spielt gegen das Vergessen an, versucht zu ergründen wie es dazu kommen konnte, dass 300.000 Menschen, viele von ihnen mit Behinderung, sterben musste. Dieses Interesse an den Beweggründen ist keineswegs morbide motiviert, sondern soll dem Publikum gefährliche Trugschlüsse in der Logik am Beginn des 20. Jahrhunderts offenlegen, die in den unbegreiflichen Gräueltaten des Nationalsozialismus mündeten, die von der Tiergartenstraße 4 ihren Ausgang nahmen.
Man will einen Schritt weiter gehen als George Santayana als er bereits 1905 ein vielfach zitiertes, paraphrasiertes und abgeändertes Zitat prägte: „Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“ Es reicht die Erinnerung nicht aus, es braucht den unangenehmen Schritt mehr, den Blick in den Abgrund, den Versuch zu verstehen. Unter der Regie von Antonio Viganò, der das Stück gemeinsam mit Giovanni De Martis geschrieben hat, wird auch die Austauschbarkeit der Kriterien der Euthanasie sichtbar, der einen der Schauspieler mit Beeinträchtigung kurz auch zum Mittäter der Krankenschwester und des Nazi-Arztes (Paolo Grossi) macht, oder die Schwester beim Himmel-und-Hölle Spiel, welches über Tod und Leben bestimmen soll, scheitern lässt, wo die Darstellerin mit Beeinträchtigung zuvor erfolgreich war.
 
 
Physisch dem Publikum den Spiegel vorzuhalten ist nur eines von vielen Mitteln, es kommt im Stück etwas früh, bevor empathisch der Nährboden erklärt wird, auf welchen die fatale Vernichtungslogik fällt. Besonders Alessandra Limetti, welche Erzählerin und Advocatus Diaboli  des Abends ist, muss diesen Brückenschlag zwischen Mitgefühl mit den Opfern und Verständnis der Tätermotive auf intellektueller Ebene ermöglichen. Grossi und Guerra bringen zwar menschliche Seiten mit auf die Bühne, aber stecken in ihrer fatalen Ideologie fest. Es wäre zu einfach gewesen, die beiden Nazis des Stückes einfach nur als böse zu zeigen. Eine wirtschaftliche Krise trifft auf fehlgeleitete und vergötterte Wissenschaftler (allen zeitlich voran Francis Galton, erster Vertreter und Begründer einer „positiven“ Eugenetik), die Propaganda-Maschinerie tut ihr übriges. So wurden etwa an Schulen im Mathematikunterricht Rechenbeispiele in den Unterricht aufgenommen, welche zeigen sollten, was mit dem in der Pflege von Menschen mit Beeinträchtigung gespartem Geld getan werden könnte, wieviele Häuser, Schulen, Krankenhäuser und, und, und... gebaut werden könnten.
Dass das Stück trotzdem erträglich bleibt, ist einem delikaten Balanceakt geschuldet, der Absurdität, einen unverdient schönen und treffenden Soundtrack, Humor und, ja, auch Schönheit in die ausgleichende Waagschale zu werfen. Nicht um die Schwere des erzählten zu lindern, sondern um dem Publikum während dem recht Kurzen Stück den nötigen Raum zum Atmen zu lassen. Eindrucksvoll und unvergesslich eine als Ballett inszenierte Szene, die als mit Kreide auf den Boden gezeichnete Spirale ihren Ausgang nimmt, sich nicht ganz wegwischen lässt und zärtliche, aber auch tragische Gesten zwischen zwei Schauspielern zeigt, die ausgesprochen großes Feingefühl beweisen. Und auch das Ende, von dem hier nichts weiter verraten werden soll, nur, dass es eine ausgesprochen schöne Geste  und ein starkes Schlussplädoyer zeigt, lässt sich zur Schönheit zählen. Man darf nach einem einfühlsamen, verstörenden, menschlichem und wichtigem Stück mit Hoffnung den Saal verlassen. Bei der Prämiere der Neubesetzung war dies nach einer ausgedehnten Standing-Ovation der Fall.