Kultur | Salto Weekend

Radikalität im O-Ton

Re-Materialization of Language will eine Ausstellung von ’78 in Venedig ins heutige Bozen übersetzen. Tomaso Bingas Lesung blieb unübersetzbar, sie fiel aus der Zeit.
Bianca Menna alias Tomaso Binga
Foto: Matteo Groppo
Was einst radikal gewesen war, eine feministische Provokation in Form konkreter Poesie, wurde zu einer Autorinnen Lesung, die rhythmisch-formell spannend blieb und durch Humor (besonders gut funktionierte in dieser Hinsicht „Dieta“, ein zeitloser Text) und Menschlichkeit bestach. Das soll keine Kritik sein, es ist - zum Glück - der Lauf der Zeit. Wären die Texte Bingas aus den rund 20 Jahren von der Mitte der 70er bis zu jener der 90er heute noch provokant, es würde wohl mehr über eine festgefrorene Gesellschaft sagen, als über die Arbeit der Künstlerin.
Tomaso Binga ist das absichtlich irreführend maskuline Alter Ego der mittlerweile über 90 jährigen Bianca Menna, welche Texte präsentierte die in wechselnden Schriftbildern (es lag ein zweisprachiges Heft auf) und Sprachmelodie überraschten und schmunzeln ließen, auch durch die bestechende Art der Künstlerin. Eingebettet wurden die zwölf Texte - elf abgedruckt im Heft, dazu  eingangs „Le pene del pene“ - in eine Übersicht zum Kontext der Schau. War der Einstiegstext auch nicht in Druckform vorliegend, seine Form war zumindest vorstellbar, da auf ihn direkt die visuell eindeutige Dichtung „Valore Vaginale“ folgte. Es wurde dem Hauptteil des Abends, der Performance „Io sono una carta“,  keine wirkliche Führung vorgestellt, wie sie angekündigt war. Was die Kurator:innen Cristiana Perrella und Andrea Viliani von der Couch aus dem zahlreich erschienen Publikum gaben, ging auf Einzelwerke kaum ein, gab dafür aber es eine hilfreiche historische Auffrischung, die als Lektüreschlüssel für Text und Kontext des Werks der Autorin dienten.
 
 
Binga selbst überbrückte etwaige Leseschwierigkeiten, bei den ohne Brille unter wenig günstigen Lichtverhältnissen vorgelesenen Gedichten, durch Nahbarkeit und Menschlichkeit. Schließlich assistierte eine Mitarbeiterin der Stiftung mit Smartphone-Lampe, was, in moderner Form, an den DIY Charakter und die schnell notwendigen Problemlösungen der  in nur 21 Tagen organisierten Originalausstellung in den Magazzini del Sale erinnern mochte. Neben kleinen Ausschweifungen und großer Spontanität in ihrer kurzen, informellen Performance („Che cosa vi leggo adesso?“) gewann Binga auch an Textsicherheit, klopfte bei „a PenelOpe“ den Takt der Prosodie des mit starken O-Vokalen spielenden Textes mit. Es war dabei auch die sichtliche Freude der Autorin am Vortrag, welche ansteckte. Aus Radikalität wurde Menschlichkeit, eine Menschlichkeit, die radikal anders war als so manche Wasserglaslesung. Das Gefühl welches man dort oft hat, dass dort durch Künstlichkeit zwischen Autor und Text eine Trennung besteht, war am gestrigen Abend nicht zu finden. Ihre eigenen performativen Texte las Binga ohne jegliche Distanz, behandelte sie im Gegensatz zum folgenden Programmpunkt nicht als sakrosankt, las da eine Wiederholung mehr, dort eine weniger als im Schriftlichen, ließ die Texte atmen, gestaltete sie lebendig und undogmatisch.
Dass „a PenelOpe“ und die anderen Texte des Abends fast gänzlich unübersetzbar waren, hieß nicht, dass man es nicht doch versuchte. Für die Übersetzungen wurde Edith Moroder bemüht, die ihr gestellte Aufgabe war jedoch schlicht eine unmögliche. In den Gedichten sind Schriftbild, oft mehrdeutiger Sinn und Sprachmelodie eng miteinander verbunden und sollten von einer mehrheitlich vokalen in eine konsonantische Sprache übertragen werden. Hier wäre - wohl auch nicht in der Kürze der Zeit möglich - eine Nachdichtung, eine freiere Gestaltung der Konzepte des Textes sinnvoller und folgerichtiger gewesen, wie auch ein Verzicht.
Vorgetragen wurden einige der Übersetzungen, am Ende der kurzen Lesung von Stephanie von Gelmini, die ihr Möglichstes tat, den Konsonanten mit einem sanftem Vortrag die Härte zu nehmen. Die energische Bestimmtheit der alten Dame konnte sie dadurch jedoch auch nicht haben, welche viele der Texte mit einem vokalem Schlussakzent ausklingen lässt. So endete der Programmteil des Abends mit einer Antiklimax, wenn auch mit einer verständlichen.