Gesellschaft | Vermisst

„Ach mein verschollner Bruder“

Die Geschwister des im Herbst verschollenen Konrad Walter haben ihrem Bruder zum Geburtstag einen Gedächtnisgottesdienst gestaltet. Mit innigen Erinnerungen.
Vermisst
Foto: RAI Südtirol
  • „Schutzengel“ ist eine ziemlich abgegriffene Metapher. Hat irgendwer in einer Notlage Glück, oder noch besser: „Schwein gehabt“, schreibt die Zeitung gern vom Schutzengel. Ist das gehabte Glück ganz groß, dann werden gleich „mehrere Schutzengel“ bemüht. Ist alles bildlich gemeint. Aber es gibt leibhaftige Schutzengel. Der letzten September in Mölten verschollene und seither nicht wieder aufgetauchte Konrad Walter hatte so einen. Er lebte in Gestalt von Frau Hermine, Bäuerin vom Spöglerhof auf Verschneid bei Mölten, früher Krankenpflegerin. Diese Frau hatte seit zwei Jahren den schwer demenzkranken Sozialforscher und ehemaligen Gewerkschafter Konrad Walter in Pflege. „In Pflege“ ist wenig gesagt. Sie teilte ihr Leben mit ihm. Konrad war wie ihr Kind. Und sie ihm wie die Mutter. Und da, an jenem 20. September, Nachmittag, ein unbeachteter Moment, Konrad war verschwunden und ist es geblieben. Schutzengel Hermine „streitet seither mit dem Herrgott“. „Denn“, so findet sie, „man lässt einen Menschen nicht allein sterben. Keinen.“

  • Seelsorger Gottfried Ugolini: Der Jugendfreund des Verschollenen leitete den Gottesdienst. Foto: RAI Südtirol

     

    „Es war ein Sterbegottesdienst, aber einer von der Art, als könne der vermutlich Verstorbene noch einmal zurückgerufen werden.

  • Frau Hermine hat das diesen Montag in der Deutschordenskirche in Bozen bei einem Gedächtnisgottesdienst für den verschollenen Konrad Walter so gesagt. Es war der 8. Jänner, Konrads Geburtstag, und es dürfte eine der schöneren, innigeren, auf jeden Fall außergewöhnlicheren Gedächtnisfeiern gewesen sein. Angeregt und vorbereitet worden war diese von den fünf Geschwistern des vermissten Konrad. Der Priester Gottfried Ugolini, Landsmann und Freund der Familie, hielt die Messe, dazu eingeladen – und zahlreich gekommen – waren Verwandte, Freunde und halt sonst von Konrads tragischem Schicksal Ergriffene. Die Kirche war mehr als nur voll besetzt.

  • Die Walter-Geschwister vor einem Jahr mit ihrem demenzkranken Bruder Konrad (Dritter von links, im schwarzen T-Shirt): Am Spöglerhof in Verschneid. Foto: privat

    Es war ein Sterbegottesdienst, aber einer von der Art, als könne der vermutlich Verstorbene noch einmal zurückgerufen werden. Den Hauptpart dazu trug Konrads Bruder Klaus bei. Von ihm stammten auch und Initiative zu der Geburtstag-Verabschiedungsfeier stammten. Klaus ist der um ein Jahr jüngere Bruder von Norbert, Jahrgang 1956. Er hat es als Straßenmusikant zu überörtlicher Bekanntheit gebracht. Am Waltherplatz und in umliegenden Straßenwinkeln Bozens spielt dieser kleine, unaufdringliche, immer freundliche, sauber in Tracht gekleidete Unterlandler Volksweisen auf allerlei Instrumenten, vorzüglich Mundharmonika, Geige und Handglöcklein. Auf einem Stühlchen sitzend, sein Instrumenten-Sortiment auf dem Tischl vor sich, gehört Klaus längst zum Stadtbild.

    Für die Feier hat Klaus seinem Bruder selber ein Gedicht geschrieben und vertont. Zum Beginn der Messe hat er es vorgetragen. „Ach, mein verschollner Bruder“, singt er darin, „was ist mit dir geschehn? / Erst in der andren Welt / darf ich dich wiedersehn?“ Fragezeichen. Und abschließend: „Ach, Konrad, liebster Bruder mein, / bleib nicht so lange fort.“ Dazwischen Konrads Lebenslauf, von bitterarmer Kindheit, dem Hüterbübl, dem heimwehgeplagten Musterschüler im Knabenseminar Johanneum, dem revolutionären Studenten, dem besonnen Gewerkschafter, Publizisten, Politikersekretär, von zehn Jahren Demenz, der tückischen Krankheit,  und schließlich über das spurlose Verschwinden – „fandst nicht mehr heim“. So schlicht das Liedel war, in der Kirche verbreitete sich Ergriffenheit. 

  • Priester Ugolini geduldete sich gern, bis er mit der Messe beginnen konnte. Denn nicht minder einfühlsam als Bruder Klaus sprach anschließend die Betreuerin Hermine. Die gelernte Krankenpflegerin hatte Konrad vor zwei Jahren zu sich auf den Bauernhof in Schlaneid genommen, nachdem seine Familie, die ihn schon 8 Jahre gepflegt hatte, nicht mehr konnte. Nicht vielen in der vollen Deutschordenskirche dürfte das sorgende Leben mit einem Demenzkranken jemals so zu Herzen gebracht worden sein wie in der Erzählung von Frau Hermine. „Das Kind in einem Mann“ – so liebevoll beschrieb sie ihren Konrad. Viel Leben kam zur Sprache, in der anderthalb Stunde Messfeier für Konrad. Gespürvoll führte Gottfried Ugolini persönliche Betroffenheitsbeiträge und liturgische Handlung über die Zeit. 

     

    „Was in allen Beiträgen zum „Geburtstag“ (Konrad wäre am Montag 69 geworden) als Thema wiederkehrte, war Heimweh“.

  • Der Straßenmusiker Klaus Walter: Er sang und spielte seinem Bruder Konrad zu Ehren ein selbstkomponiertes Lied. Foto: RAI Südtirol
  • Eine Schwester von Konrad sprach passende, nie in Rührseligkeit ausartende Fürbitten. Josef Gummerer, ein Mitstudent aus Johanneumszeit, erzählte aus seinen Erinnerungen an den immer kleinsten, scheuesten, aber sportlichen, musikalischen und intelligenten Klassenkameraden Konrad. Was in allen Beiträgen zum „Geburtstag“ (Konrad wäre am Montag 69 geworden) als Thema wiederkehrte, war Heimweh. Es schmerzte schon den Kuhhüter und den Heimschüler und kehrte im demenzkranken Mann wieder. Er habe viel geweint. Dabei war die Kindheit in der Neumarkter Familie Walter bei Gott kein Elysium zum Sich-Heimsehnen. „Wir sechs Kinder waren eine verschworene Notgemeinschaft“, sagt Klaus.

    Zum Abschluss sangen wir Dietrich Bonhoeffers Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben, / behütet und getröstet wunderbar.“ Das mehrheitlich politische Volk in den Kirchbänken ist traditionell wenig stimmsicher, aber mit jeder Strophe klang es voller. Konrad Walter, als Sänger auch begabt, hätte uns guten Willen bescheinigt.