Gesellschaft | Gastkommentar

Die Zeit ist reif

Es ist nicht mehr vertretbar, das Potential der Immunen nicht zu nutzen. Ein Plädoyer für die Berücksichtigung der natürlichen Immunität und eine neue Teststrategie.
DNA
Foto: Pixabay
Uns alle vereint ein Ziel: Wir wollen wieder normal leben wie vor Covid-19. Doch wie kann Südtirol das schaffen? Wie können Gesellschaft, Wirtschaft, Sport und Kultur wieder nachhaltig und zielführend normalisiert werden? Alle konzentrieren sich immer noch nur auf die neuen Infektionen und den Impfstoff als Allheilmittel. Dies obwohl seit knapp 2 Monaten weltweit angesehene Studien beweisen, dass natürliche Immunität auch bei Covid-19 nicht nur aufgrund neutralisierender Antikörper sondern vor allem auch wegen der sog. T-Zellen (Gedächtniszellen des Immunsystems) lange anhält (Langzeit-Immunität). Die wertvolle und entscheidende Ressource der natürlich Immunen wird aber weiterhin vernachlässigt. Die Zeit ist reif, für die Nutzung der natürlichen Immunität einzustehen.
 
Zurück zur Normalität. Wir benötigen beides.
 
Um zur Normalität zurückzukehren, benötigen wir beide Formen von Immunität: die mittlerweile weit fortgeschrittene natürliche und die künstliche Immunität durch Impfung. In der Summe werden sie dazu führen, dass sich die Situation schrittweise normalisiert.
 
Natürliche und künstliche Immunität durch Impfung. Zusammenhang.
 
Impfungen funktionieren in aller Regel nur dann, wenn die natürliche Immunität funktioniert. Impfung bedeutet – so wie bei der natürlichen Immunität – aber auch nicht volle Immunität. Ein Restrisiko besteht bei beiden Formen der Immunität.
 
Natürlich Immune in Südtirol. Schätzung.
 
Die Zahl der natürlich Immunen, d.h. die von der Infektion Genesenen, ist groß und wird von Tag zu Tag größer. Sie ist somit eine der wertvollsten Ressourcen im Kampf gegen das Virus. Offizielle Statistiken vernachlässigen leider bisher die enorme Dunkelziffer. Konservativ rechnet man international mit einem Faktor 4 bis 6, d.h. 4 bis 6 Mal soviel Infizierte wie in den offiziellen Statistiken erfasst. In Südtirol dürften deshalb Stand heute (bei ca. 31.000 mittels PCR Test positiv Getesteten) zwischen 125.000 - 185.000 SüdtirolerInnen unwissend mit dem Virus in Kontakt gekommen und davon genesen sein, d.h. eine natürliche Immunität aufgebaut haben.
 
Herdenimmunität. Beispiel Gröden.
 
Gröden ist zwar nicht für ganz Südtirol repräsentativ, stellt dennoch ein sehr gutes Beispiel dar. Eine im Juni 2020 vonseiten des Sanitätsbetriebes repräsentative Antikörperstudie (Astat Info nr. 38) hat bei ca. 30% der GrödnerInnen Antikörper im Blut nachgewiesen. Seither ist mehr als ein halbes Jahr vergangen, d.h. die Immunisierung (Durchseuchung) ist mittlerweile noch viel weiter fortgeschritten. Es wäre sonst nicht zu erklären, wieso man aktuell im Grödnertal, bei ca. 10.000 Einwohnern, aktuell knapp 20 aktive Fälle zählt.
 
Relevanz der Immunen. Beispiel Sanitätsbetrieb.
 
Wenn wir die – mittlerweile durch weltweit anerkannte Studien (z.B.: Wajnberg in: Science) nachgewiesene – natürliche Immunität nicht nutzen, zahlen wir dafür einen riesigen Preis. Bei einem mittlerweile so hohen Anteil der Immunen ist es gesellschaftlich, wirtschaftlich und auch ethisch nicht mehr vertretbar, ihr Potential nicht anzuerkennen und zu nutzen. Es ist beispielsweise nicht mehr verhältnismäßig, Immune weiterhin wie Noch-Nicht-Immune zu behandeln und Ihre Freiheiten gleichermaßen einzuschränken. So muss aktuell ein Immuner immer noch in Quarantäne, wenn er in Kontakt mit einem Positiven kommt. Besonders relevant ist dies im Gesundheitswesen, das bekanntlich auch aufgrund des Personalmangels überlastet ist. Tatsächlich ist ein großer und schnell wachsender Anteil des Gesundheitspersonals immun. Wenn ihre Immunität effektiv identifiziert und genutzt würde, könnten viele Probleme weitgehend entschärft werden. In Südtirol betrifft es beispielsweise aktuell gemäß offiziellen Kommunikationen mehr als 1.400 MitarbeiterInnen im Sanitätsbetrieb.
 
Anerkennung der natürlichen Immunität. Beispiel Island...und Südtirol
 
Island zeigt, wie es anders gehen kann: Seit 10. Dezember sind beispielsweise die Grenzen für Urlauber geöffnet, die nachweislich die Infektion überstanden haben. So einfach funktioniert es: Der Nachweis einer bestandenen Infektion muss über einen PCR- oder quantitativen Antikörpertest erfolgen. Zudem bestehen für die Covid-19-Immunen keine Einschränkungen mehr, wie z.B. Quarantäne. Da davon auszugehen ist, dass Island seine Entscheidungen nicht auf einer anderen wissenschaftliche Basis trifft, ist die Vorgehensweise zu begrüßen. Erfreulicherweise wurde auch in Südtirol die Kraft der natürlichen Immunität bereits – ganz leise – anerkannt. So wurden Menschen, die in den drei Monaten vor der Massen-Schnelltestaktion postiv auf das Virus getestet wurden und in Isolation waren, vom Schnelltest mit der Begründung befreit, sie sollten ausreichend Antikörper haben, um nicht infektiös zu sein.
 
Relevanz der Immunen. Start der Impfkampagne.
 
Die letzten Tage und Wochen sind gekennzeichnet durch knappe Mengen an Impfdosen und Lieferengpässen. Auch in Südtirol. Zudem wird bekanntlich in den nächsten Monaten die Impfung ohnehin nicht für alle gleichzeitig zur Verfügung stehen. Um so mehr wird es entscheidend, zu wissen, wer bereits eine natürliche Immunität aufgebaut hat um noch besser zu priorisieren und den knappen Impfstoff noch gezielter einsetzen zu können. Zudem wäre es sinnvoll die SüdtirolerInnen transparent über die unterschiedlichen Formen der Immunität (Vor-/Nachteile/Risiken) zu informieren. Dann kann jeder – je nach persönlicher Situation und nach Rücksprache mit dem Arzt – in Eigenverantwortung entscheiden, ob er eine natürliche Immunität mit einer künstlichen Impfung "auffrischen" will oder sich auf die natürliche Immunität verlässt.
 
Teststrategie Südtirols. Vorschlag.
 
Die Strategie Südtirols, breit zu testen anstatt die persönlichen und wirtschaftlichen Freiheiten weiter einzuschränken, war und ist richtig. Die durchgeführten und weitere geplante Virus-Schnelltests sollten durch weitere zielführende Test-Strategien ergänzt werden. Neben der gerade laufenden Virusaktivität sollte auch der Bestand an (tatsächlichen) Immunen durch quantitative Antiköpertests erfasst und in offiziellen Statistiken bzw. bei zukünftigen Strategien und Massnahmen berücksichtigt werden. Dafür sollte allen SüdtirolerInnen die Möglichkeit gegeben werden, sich freiwillig einem quantitativen Antikörpertest zu unterziehen. Diese Antikörpertestungen könnten – entsprechend neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Immunität – in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. Am Anfang beispielsweise alle 2-3 Monate.
 
Antikörpertestungen. Anreize. Nutzen.
 
Erstens: Man würde ein besseres Bild über das tatsächliche Infektionsgeschen erhalten (auch wissenschaftlich für die Zukunft relevant). Zweitens: Die Impfdosen sind bekanntlich sehr knapp und könnten gezielter eingesetzt werden. Drittens: Gäbe es vielen Menschen mehr Gewissheit und würde auch Ihre Ängste mindern, ihre Produktivkräfte befreien und Lebensqualität erhöhen. Viertens: Es gäbe einen positiven Anreiz zum freiwilligen Testen (sowohl bei Testaktionen der öffentlichen Hand als auch von Seiten der Privatwirtschaft).
 
Immunität. Weitere Implikationen.
 
Weiters sollte – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit – auch darüber diskutiert werden, wie künftig mit den natürlich bzw. künstlich Immunen durch Impfung umgegangen werden soll, was beispielsweise die (teilweise) Befreiung von den üblichen Bestimmungen angeht (z.B. Isolation bei Kontakt mit Positivem, etc.). Auf jeden Fall sollten künstlich und natürlich Immune gleich behandelt werden.
 
Antikörpertestungen. Ein zielführender Südtiroler Weg.
 

Südtirol hat die Chance – auf Basis international anerkannter wissenschaftliche Evidenz – durch flächendeckende Antikörpertestungen den bereits eingeschlagenen "Südtiroler Weg" weiter auszubauen und zielführender zu gestalten. Mit einem solchen Vorgehen könnte Südtirol die Krise nicht nur effizient und zielführender bewältigen, sondern zum Vorbild für Italien und Europa werden.

 


 
Der Beitrag ist in gemeinsamer Forschung mit Reiner Eichenberger, Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Freiburg, Schweiz, entstanden.