Noch sind wir einige Monate vom Hochsommer entfernt. Doch die Lage im Mittelmeer mutet bereits jetzt absolut dramatisch an. In Lampedusa sind bei nur 400 verfügbaren Plätzen allein am Donnerstag 1869 Migranten eingetroffen. Über 2000 Insassen drängen sich in dem Auffanglager, das von der tunesischen Küste mit Booten in einem Tag erreichbar ist. Allein im jonischen Meer wurden gestern in drei Booten 1300 Migranten gerettet. Vor der libyschen Küste sind am Sonntag 30 Migranten ertrunken, als ihr Schlauchboot in der stürmischen See kenterte.
In den ersten zwei Monaten des Jahres ist im Mittelmeer die Zahl der geretteten Migranten um 116 Prozent gestiegen.
In den ersten zwei Monaten des Jahres ist im Mittelmeer die Zahl der geretteten Migranten um 116 Prozent gestiegen. 584 landeten gestern in Reggio Calabria, fast 500 in Crotone. Nach Aussagen der italienischen Geheimdienste warten in Libyen derzeit 685.000 Migranten auf eine Gelegenheit, nach Italien zu gelangen. Der für Migration zuständige Staatssekretär Alfredo Mantovano zeigt sich trotz der beeindruckenden Zahlen optimistisch. Das 2002 verabschiedete Bossi-Fini-Gesetz zur Regelung der Einwanderung sei überholt und müsse geändert werden. Nun peilt die Regierung eine Zusammenarbeit mit Ländern wie Pakistan, Afghanistan, Bangladesh und der Türkei an: "Molti stati hanno tutto l'interesse che noi ogni anno facciamo entrare 300 o 500 di loro. E devono frenare i flussi", versichert Mantovano.
In Cutro, dem Schauplatz der jüngsten Flüchtlingstragödie in Kalabrien, haben gestern fast 10.000 Menschen an einer Kundgebung teilgenommen, um der Opfer der Katastrophe zu gedenken. Auch viele Angehörige der 78 Opfer nahmen daran teil. Darunter befand sich auch der in Sydney lebende Afghane Harris Wosufi, der bei der Schiffstragödie seinen Cousin, dessen Frau und deren drei Kinder verloren hat.
Die Regierung zeigt sich nun plötzlich bereit, jährlich 250.000 Einreisegenehmigungen zu erteilen. Als Gegenleistung sollen die Herkunftsländer den Migrantenfluss kontrollieren. Italiens Unternehmerverbände schätzen, dass die Halbinsel angesichts des dramatischen Geburtenrückgangs bis zu 500.000 Migranten in den Arbeitsmarkt integrieren kann.
Regierungschefin Giorgia Meloni übt indessen weiter Druck auf Brüssel aus. Die EU müsse ihre Aussengrenzen effizienter kontrollieren. Nötig sei un "patto europeo su migrazione e asilo." Nun warten alle auf das von der Regierung angekündigte "decreto flussi" mit Abänderung der legge Bossi-Fini. Aber schon kündigt sich neuer Streit an: La Repubblica: "Ci sono visioni diversi sui numeri complessivi." Innenminister Matteo Piantedosi hält wie gewohnt den Finger am Drücker: "Non possono essere 250.000, ma 100.000 immigrati." Und der Vorsitzende des Bauernverbandes Confagricoltura in Venetien, Lodovico Giustiniani, stellt klar: "La manodopera in agrocoltura è un' emergenza drammatica, ma non si risolve scaricando navi di migranti nelle campagne italiane. Le aziende agricole non sono a caccia di disperati come un secolo fa. Accoglienza, lavoro e agricotura non possono essere ridotti a propaganda. Occorrono interventi stabili, consapevoli dei problemi e delle realtà." Interventi stabili freilich gehörten noch nie zu den Stärken der italienischen Politik.