Film | Dokumentarfilm

Die Urlüge

Mehr als zehn Jahre hat die junge marokkanische Regisseurin Asmae El Moudir an „The Mother of all Lies“ gearbeitet. Das Endresultat ist eine berührende Trauma- und Familientherapie, irgendwo zwischen Drama und Dokumentarfilm.
Die Mutter aller Lügen, White Lies
Foto: Insight Films/Asmae El Moudir
  • Den Begriff Therapie lehnte die Regisseurin im an den Film angeschlossenen Videoanruf mit Saalpublikum und FAS Frauen Round Table und Female Views Vertretung gleich zu Beginn ab. Kino könne nur provozieren, nicht aber heilen oder eine Form von Therapie sein, so die Regisseurin. Dennoch erscheint es passend um den Film auf den Punkt zu bringen.

    Alles beginnt mit einem Foto, von dem Asmae gesagt bekommt, dass eines der vier Kinder im Bild sie sei. Es ist das einzige angebliche Bild, das es aus der Kindheit der Filmschaffenden gibt, doch sie erkennt sich darauf nicht wieder. Der Zweifel steht am Anfang der 2012 begonnen Recherche, die immer wieder an den 20. Juni 1981 führt, aus einer einzigartigen Makroperspektive heraus. Mit Hilfe des Vaters, der für das Projekt zum „Komplizen“ geworden sei, so die Regisseurin, entsteht die Kindheitsnachbarschaft in Casablanca im Puppenhaus-Maßstab, die Familienmitglieder und Nachbarn werden zu Tonpuppen. Die physische Erinnerung an die Vergangenheit, die Asmae El Moudir zuvor verwehrt blieb, nimmt Form an.

  • Gut besucht, nicht ausgelastet: Das Publikum war zahlreich und interessiert, den Saal zu füllen vermochte es aber nicht. Beim nächsten DOC DAY sind noch mehr Zuseher:innen willkommen. Foto: Daniel Mazza

    In einem Atelier drei Stünden nördlich von Casablanca wurde das Gros  der Aufnahmen für den Film gemacht, der auch seinen Entstehungsprozess miterzählt, seine Geschichte einen Moment lang finden muss. Das braucht neben Zeit eben auch eine gewisse Distanz. Die Regisseurin meint, dass letztere ausschlaggebend gewesen sei, damit die Darsteller – allesamt keine Schauspieler – „freier sprechen konnten“. Ob hier emotionale Distanz mit räumlicher kommt oder, wie mehrfach betont wird, davon dass die Wände in Casablanca Ohren hätten?

    Am meisten sträubt sich wohl die Großmutter davor vor die Kamera zu treten und sich zu öffnen. Mit der Enkelin und Regisseurin am Set scheinen wir immer wieder Zeuge kleinerer Identitätskämpfe zu werden. Eigentlich geht es um Kontrolle, wenn sich die Matriarchin an ihrer Tonfigur stößt, mit mehrfachem „Ihr habt mich entstellt“, oder wenn ihr Kopf scheinbar übergroß im Filmset des kleinen Straßenzuges auftaucht. Diese Kontrolle des Bildes, zu dem die Generationen eine jeweils eigene, komplexe Beziehung entwickeln, ist ein weiterer stiller Fokus des Films. Dieser Umgang mit den Bildern der Lebenden und Toten, geht auf die Urlüge in der Familie zurück: eine Notlüge, die sich gegen Ende des 90 minütigen Films auflöst. Wichtig ist dabei nur zu betonen, dass, über den regionalen, beziehungsweise nationalen Kontext hinaus diese Familiendynamiken mittels Empathie nachempfunden werden können. Der arabische Filmtitel meint eben diese „harmlose“ Notlüge, eine dort wie im Englischen existente „weiße“ Lüge, die als Begriff keine böse Absicht, sondern eher fehlgeleitete Rücksicht in sich trägt. Kern der Sache ist, dass wir uns in der Familie, oft auch ohne böse Absicht, verletzen und kränken.

  • Schalte nach Teneriffa: Die Regisseurin stellte sich Fragen, hauptsächlich der Co-Organisatorinnen von FAS Frauen Round Table und Female Prospectives. Foto: Daniel Mazza

    Der Film, der ohne Skript entstanden ist, wurde aus 500 Stunden Filmmaterial zusammengeschnitten und hat daher auch essayistische Züge. Der ungewöhnliche (Kunst-)griff zu den Puppen ist besonders in längeren Einstellungen der richtige, wenn wir das Gefühl haben, dass das besonders einem Nachbar ein Eintauchen und Zurückkehren an den Erinnerungsort erlaubt. Er erzählt von der Nacht des 20. Juni, dem Höhepunkt der Repressionen der Brotaufstände im Sommer ’81, die auf eine Teuerung der Grundnahrungsmittel zurückgegangen sind. Wie beinahe einige Mithäftlinge tatsächlich in einer zu engen Zelle zusammengepfercht erstickt sind. Wie die Leichen fortgebracht und andernorts heimlich begraben wurden, etwa am ehemaligen Fußballplatz aus der Kindheit des Vaters. Auch die Schwester der Nachbarin Malika, Fatima, ist zu Tode gekommen, ist erschossen worden. Ihr Foto duldet die Großmutter der Regisseurin an der Wand, Kinder und Enkelin dürfen nicht ins Bild. Jeder kenne eine junge Märtyrerin oder einen jungen Märtyrer in seiner Nachbarschaft, kommentiert man im Film den Tod.  Ein Stück weit ist der Film auch Protest, Pappgesichter geistern durch die Straßen – die echten – Casablancas, zeigen dass Erinnerung und Geschichte eine andere Abzweigung gewählt haben. Offizielle Zahlen und das, was anhand der Entdeckung anonymer Massengräber wahrscheinlich erscheint, gehen auseinander.

    Die Familienmitglieder kommen durch den Film doch zusammen, hat man das Gefühl. Vielleicht kann auch Provokation Teil eines Heilungsprozesses sein. Bei der Reihe DOC DAY geht es demnächst wieder nach Afrika, diesmal auf den Archipel Kap Verde, für „Omi Nobu“ von Carlos Yuri Ceuninck und eine neue Perspektive auf die Zeit, die Beziehung zwischen Mensch und Natur, sowie auf gänzlich andere und persönliche erlebte Wirklichkeiten.

  • Die vollständige, von Emanuele Vermillo getroffene Auswahl der Filme von  „DOC DAY“ finden Sie online. Die kommenden Termine werden auch in der Wiederaufnahme der Reihe SALTO al Cinema vorgestellt. Halten Sie ihre Augen offen!