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Durch das Meer

In "Blutbuch" gibt Kim de l'Horizont der Leere, die die weibliche Ahnenlinie verschlingt, eine Stimme und sucht so nach einem neuen, befreiten Raum in dem auch nicht-männliche Körper einen eigenen Ausdruck finden dürfen.
Blutbuch von Kim de l'Horizon
Foto: DW
  • Mère

    Grammatik: f.

    Schreibweisen: Meer

    Bedeutung: Mutter (genau wie das französische “mère” ausgesprochen); meine Mutter

    [https://www.berndeutsch.ch/words/12649]

  • In Bernerdeutsch ist die Mutter ein “Meer”, etwas Flüssiges. Dieses Bild der flüssigen, nicht greifbaren Mutter dient Autor:in Kim de l’Horizont in “Blutbuch” als Ausgangspunkt: Der Körper der Mutter — wie auch jener der Groß- und Urgroßmutter — musste aufgrund patriarchaler Gewalt der christlich-zentraleuropäischen Kultur auf eine selbstbestimmte Form verzichten. Diese Unfreiheit der Körper schwappt in Kim de l’Horizonts Darstellung von einer Generation in die nächste und füllt immer neue Menschen mit Verachtung für den eigenen, nicht-männlichen Körper.

    In Form langer Briefe an die an Demenz erkrankte Großmutter schreibt Ich-Erzähler:in Kim, die sich wie Autor:in Kim de l’Horizont als nicht-binäre Person identifiziert, gegen die Stille der weibliche Ahnenlinie an. Anhand von Erinnerungsstücken versucht die Person dadurch, dass sie den Geschichten ihrer Mütter eine Stimme gibt, zurück an ein eigenes, freieres Ufer zu schwimmen.

  • Wertenden Augen entfliehen

    “Literatur ist für mich eine Möglichkeit, den Regeln, die wir als Kind mitbekommen haben, etwas auszuweichen und vielleicht eigene Regeln aufzustellen”, erklärt Kim de l’Horizont im Interview mit der Schweizer Frauenzeitschrift annabelle. Regeln, die nicht nur die Wahrnehmung des eigenen Körpers betreffen, sondern auch die Sprache, in der Kim sich ausdrückt: Hochdeutsch und Schweizerdeutsch als Muttersprachen, denen Kim mit Gendersternchen und “mensch” anstelle des generischen “mans” eine nicht vorgesehene Neutralität abringt; und in denen sich Kim trotzdem nicht ganz frei fühlen kann. Die Muttersprache ist von wertenden Augen durchdrungen. Sie ist nicht frei wie beispielsweise die Sprache der Sexdates, das Englische.

    So switcht Kim de l’Horizont im Roman vom Deutschen zurück ins Bernerdeutsch und dann nach vorne ins Englische. Aus dem Bernerdeutsch bricht Kim persönliche Erinnerungen ab. Das Englische ist hingegen ein eigener, ein freier Raum, in dem auch jene Dinge, die in der Muttersprache keine Worte finden, zur Sprache kommen dürfen.

  • Fließend

    Die Sprachen des Romans fließen wie auch dessen Inhalte ineinander über und scheuen klare Anfänge und Enden. So beginnt der Roman mit “beispielsweise”, springt von einer Erinnerung zur nächsten und betrachtet das Kind, das Kim einmal gewesen war, aus der sicheren Distanz einer dritten Person. Die Gegenwart der schreibenden Person mischt sich in Form von Anrufen der Mutter, Besuchen bei der Großmutter, Sexdates und WhatsApp-Mitteilungen unter die Erinnerungen.

    Kim de l'Horizonts Sprache ist eine wunderbare, neue voller “Feinheit”. Eine Feinheit, die die Person auf knapp 300 Seiten nicht nur für den Dialog mit vergangenen Generationen aufbringt, sondern auch für die Verbindung mit anderen Lebewesen: Wie sich die auf dem Buchcover abgebildete Daphne in einen Baum verwandelt und sich somit der Natur zuwendet, so wenden sich die Lebewesen im Buch dem Kind zu, das mit ihnen spricht. Die Blutbuche in Großmutters Garten, die dem Roman seinen Titel schenkt, wird zu Subjekt, das tröstet und erzählt: von Großmutters Familie wie von der nationalistischen Heimatkultur.

    “Blutbuch”, das Kim de l’Horizon als “kollektives Heilsüppchen” bezeichnet, an dem die Person über zehn Jahre gearbeitet hat, ist für den deutschen Verlag Dumont erschienen und wurde 2022 mit dem Literaturpreis der Jürgen Pronto-Stiftung, dem deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Das Buch wird in 16 Sprachen übersetzt und ist im November für Saggiatore unter dem Titel “Sono da sempre un corso d'acqua” auch auf Italienisch erschienen.

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  • Foto: Alte Mühle