Gesellschaft | Soziales
„Ein möglichst normales Leben“
Foto: Salto.bz
Die Plätze in den Wohndiensten für Menschen mit Behinderungen sind in Südtirol knapp. Das Land bietet insgesamt 411 Plätze in verschiedenen Wohnstrukturen für sie an (Stichtag 31.12.2022). Weitere 139 Wohnplätze sollen bis 2027 geschaffen werden.
Um möglichst optimal auf die Bedürfnisse der Person mit Behinderung und ihrer Familie eingehen zu können, wurde das Angebot einer fachspezifischen Beratung und Unterstützung für Wohnprojekte bei den Sozialdiensten vorgesehen: „Das klassische Wohnheim ist nicht immer die ideale Lösung. Deshalb ist uns wichtig, dass ein Wohnprojekt mit der betroffenen Person entwickelt wird, das auf ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten ist“, erklärt Verena Moser, Direktorin des Amtes für Menschen mit Behinderungen. „Laut der UN-Behindertenrechtskonvention sollen die Menschen selbst entscheiden können, wo und mit wem sie wohnen wollen.“
Während in den Wohnheimen nächtliche Betreuung gewährleistet wird, werden die Menschen in Wohngemeinschaften und Trainingswohnungen tagsüber begleitet, während eine Nachtbetreuung nur im Bedarfsfall erfolgt. Die Trainingswohnungen sollen Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen und Abhängigkeitserkrankungen auf ein selbstständiges Leben vorbereiten. Dort leben die Personen in der Regel für zwei Jahre. Kann die Person dann in eine eigene Wohnung ziehen, stehen ihr Unterstützungsangebote wie die sozialpädagogische Wohnbegleitung oder die Hauspflege zur Verfügung.
Tatsächlich wird der Großteil der Menschen mit Behinderungen in Südtirol zuhause von Angehörigen betreut oder sie leben eigenständig in einer Wohnung. Schließlich variieren die Behinderungsgrade von körperlichen bis hin zu kognitiven Einschränkungen stark. Dennoch kann es zu Situationen kommen, wo ein betreuter Wohnplatz für die Betroffenen notwendig wird. Für diesen Fall werden die Personen auf die Warteliste der Sozialdienste der Bezirksgemeinschaften gesetzt, in Bozen ist der Betrieb für Sozialdienste dafür zuständig.
„Es kommt vor, dass kurzfristig kein Platz frei ist“, sagt Moser. Die Einrichtungen sind zwar verpflichtet einen Notfallplatz bereitzuhalten, aber dieser stellt nur eine vorübergehende Lösung dar. Außerdem braucht es für mehr Wohnplätze auch Personal, das in Zeiten des Fachkräftemangels auch in diesem Bereich händeringend gesucht wird. Während der Corona-Pandemie mussten deshalb die Tagesdienste zurückgefahren werden, um genügend Betreuungspersonal für die Wohndienste zu haben, berichtet Moser.
Der im vergangenen August ausgehandelte Zusatzvertrag für Pflegeberufe hat aber laut dem Direktor des Ressorts Familie, Senioren, Soziales und Wohnbau, Luca Critelli, für etwas Entspannung gesorgt: „Vor allem die 24-Stunden-Betreuung wird nun deutlich besser bezahlt, da die Turnusarbeit sieben Tage die Woche eine besondere Herausforderung darstellt. Daneben sei betont, dass in allen Pflegeberufen wichtige Arbeit geleistet wird, die nun auch besser belohnt wird.“
Herausforderung Alter
„Die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderungen hat sich zum Glück in den letzten Jahrzehnten erhöht. Das führt dazu, dass sie mit zunehmendem Alter nicht immer von ihren noch älteren Eltern betreut werden können“, sagt Critelli. „Es ist deshalb wichtig, bereits frühzeitig die Situation zu begleiten. Viele Eltern wollen ihre Kinder verständlicherweise gerne so lange wie möglich zuhause selbst betreuen. Leider passiert es oft, dass die Eltern etwa aufgrund einer Krankheit oder der eigenen Pflegebedürftigkeit nicht mehr imstande sind, sich um ihr Kind mit Behinderung zu kümmern, und es kurzfristig einen Wohnplatz braucht.“
Zu einem möglichst normalen Leben in der Gesellschaft gehört etwa auch die Mitgliedschaft in Vereinen oder Sporttätigkeiten.
Um Menschen mit Behinderungen bei einer nicht mehr vorhandenen familiären Unterstützung weiterhin eine Betreuung gewährleisten zu können, wurde in Italien 2016 das Gesetz „Dopo di noi“ verabschiedet. Es enthält spezifische Maßnahmen, vor allem vermögensrechtlicher Natur, die nach dem Ableben der Eltern die Fortführung des individuellen Lebensprojektes sicherstellen sollen. „Viele melden sich schon frühzeitig und präventiv für Wartelisten einer Einrichtung an. Wenn der Platz dann verfügbar ist, kann es aber sein, dass die Eltern es zu diesem Zeitpunkt noch schaffen und auf den Wohnplatz vorerst verzichten“, sagt Critelli. Deshalb würde die Anzahl der Personen auf den Wartelisten nicht aussagekräftig für den tatsächlichen Bedarf sein.
Das eigene Kind in eine Wohnstruktur zu geben, sei außerdem nicht immer einfach: „Das Loslassen ist ein Veränderungsprozess. Wenn das Kind schon seit Jahrzehnten mit den Eltern wohnt, müssen die Beteiligten auch bereit sein, den Schritt nun zu tun. Diesen Prozess versuchen wir auch zu begleiten, denn besonders für viele jüngere Erwachsene mit Behinderung ist die Wohnautonomie ebenfalls ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstverwirklichung“, erklärt Moser. Außerdem liege es im Interesse der öffentlichen Hand, die Menschen mit Behinderungen nicht aus ihrem sozialen Umfeld zu reißen, betont Critelli. Dieses Ziel wird durch verschiedene Beiträge, wie etwa das Pflegegeld oder der Beitrag für das selbstständige Wohnen, gefördert.
Ziel der inklusiven Gesellschaft
„In den letzten Jahren hat sich der Ansatz der Integration hin zur Inklusion geändert: Heute sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die exkludieren, überwunden werden. Es geht um eine inklusive Gesellschaft, in der jeder und jede aufgrund seiner und ihrer Fähigkeiten als Bereicherung wahrgenommen wird“, sagt Moser vom Amt für Menschen mit Behinderungen.
Das betreffe nicht nur Wohnen, Bildung und Arbeit, sondern auch andere Bereiche des Lebens wie die Freizeit: „Wir wollen es Menschen mit Behinderungen ermöglichen, ein möglichst normales Leben in der Gesellschaft führen zu können, dazu gehört etwa auch die Mitgliedschaft in Vereinen oder Sporttätigkeiten“, führt Critelli vom Ressort für Soziales aus.
Dieses Ziel verfolgt auch der Monitoring-Ausschuss des Landes, der 2016 eingeführt wurde, um die Einhaltung der Rechte für Menschen mit Behinderungen zu beobachten. „Die meisten Menschen sind hilfsbereit, aber es wäre schön, wenn man allgemein offener wäre und nicht nur das Äußere sehen würde“, sagte Eva Rabanser vom Monitoring-Ausschuss im Interview mit salto.bz. Es bleibt also noch genügend Arbeit zu tun – in den Betreuungsstrukturen, aber auch im Bus, auf der Straße oder im Café.
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