Gesellschaft | Flucht

Where do all the children go?

Mehr als 16.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben in diesem Jahr bereits Italien erreicht. Und werden auch hier nicht ausreichend begleitet, warnen NGOs.

Ein Bild wirkt stärker als 1000 Statistiken. Das zeigt sich im vergangenen Jahr, als der kleine Aylan Kurdi die Welt bewegte. Ein totes Kleinkind, wie Strandgut an den türkischen Strand Bodrum gespült. „Das muss aufhören“, war sich die internationale Gemeinschaft damals einig. Doch ein Jahr später sind entlang der Mittelmeerroute weiter 140 „Aylans“ ums Leben gekommen. Mehr als 16.000 Minderjährige ohne Begleitung schafften es dagegen an Italiens Küsten. Das sind bereits jetzt weit mehr als im gesamten Vorjahr, als laut UNHCR 13.705 unbegleitete Flüchtlinge registriert wurden.  

Es ist nicht allein die Zahl an erschöpften, traumatisierten und auf sich gestellten Kindern und Jugendlichen, die beeindruckt. Es ist auch die Tatsache, dass ihnen in Europa, in Italien nicht ausreichend Schutz geboten wird. „Sie werden in oft unsichere und nicht an ihre Bedürfnisse angepassten Unterkünfte eingesperrt, werden nicht ausreichend über ihre Rechte informiert“, kritisiert die Nichtregierungsorganisation Oxfam in einem aktuellen Bericht. „Jeden Tag verschwinden 28 unbegleitete Minderjährige einfach von der Bildfläche, wegen eines ineffizienten und unzureichenden Systems“, so die Anklage der NGO in einem Bericht zur italienischen Situation.  

Unsichtbar

Wie auch andere Flüchtlingsgruppen ist ein Teil des Phänomens damit zu erklären, dass die Minderjährigen nicht in Italien bleiben wollen und versuchen, Verwandte in anderen Ländern zu erreichen. Vielfach würden sie aber einfach ohne Ziel abtauchen, auf der Straße leben, nicht erfasst, nicht betreut, weiteren Gefahren ausgesetzt, liest man im Oxfam-Bericht. Mehr als 5000 Minderjährige, also gut ein Drittel der in Italien gestrandeten Kinder und Jugendlichen, verschwinden so wieder aus den offiziellen Statistiken, werden unsichtbar.

Die NGO ist bei weitem nicht die einzige Organisation, die immer wieder den Finger in eine Wunde legt, die das Versagen Europas in der Flüchtlingsfrage besonders deutlich macht. Laut Zahlen der Europäischen Polizeibehörde EUROPOL dürften europaweit zumindest 10.000 Kinder und Jugendliche nach ihrer Ankunft verschwinden. Viele Experten setzen die Zahl noch weit höher an, da viele dieser unbegleiteten Minderjährigen bereits untertauchen, bevor sie von den Behörden registriert werden. Das Kinderrechtsorganisation Save the Children appelliert deshalb zum wiederholten Mal an die EU und ihre Mitgliedsstaaten, endlich Maßnahmen zu setzen, um die jungen Flüchtlinge nicht auf sich allein gestellt zu lassen. „Alle minderjährigen Flüchtlinge haben das Recht sich in Sicherheit zu fühlen, vor den unzähligen Risiken geschützt zu werden, denen sie auf ihrer Flucht ausgesetzt sind und ihre Ausbildung fortzusetzen“, unterstreicht der Generaldirektor von Save the Children Italia Valerio Neri. „Doch Europa fährt damit fort, Kinderrechte zu verletzen – mit Gesetzen und Entscheidungen, die alle auf die Kontrolle der Grenzen ausgerichtet sind statt den höher gestellten Schutz der Kinder zu garantieren“, so Neri.

Grenzübergreifende Zugkontrollen

Als Bestätigung seiner Anklage können die aktuellen Meldungen von gemeinsamen grenzübergreifenden Zugskontrollen der italienischen und österreichischen Polizei gesehen werden. Seit Montag müssen Fahrgäste in allen internationalen Reisezügen zwischen Klagenfurt und Udine jederzeit damit rechnen, kontrolliert zu werden, meldeten österreichische Medien gestern.