Politik | Tibet und Autonomie

Kann China Autonomie?

So ließe sich die Fragestellung von Professor Tashi Rabgeys gestrigem „Galopp“ durch ihre Arbeit an der Eurac zuspitzen. Ein anderer Blick auf Tibet, China und Autonomie.
Tashi Rabgey
Foto: Tashi Rabgey
  • In ihrer Arbeit befasst sich die tibetisch-amerikanische Wissenschaftlerin Tashi Rabgey mit Regierungsmodellen und dem Sino-Tibetischem-Dialog. Sie zeichnete eine Zeitlinie mit den verschiedenen Treffen mit anderen Expert:innen auf dem Gebiet der Autonomien nach und berichtete auch von verschiedenen Treffen mit chinesischen Regierungsvertretern, etwa bei einer Konferenz in Oslo, anlässlich der Sommerspiele 2008 in Beijing. Ihre Grundeinstellung, auch zur Wahrung der wechselseitigen Integrität, ist dabei eine bewundernswerte: „Wir sind in nichts einer Meinung, deswegen sind wir in diesem Raum um darüber zu reden.“

    Die Fragestellung des Vortrags „Can Autonomy exist in an Authoritarian State?“ (Kann Autonomie in einem autoritären Staat existieren?) beantwortete sie, nachdem sie auf Schwierigkeiten der chinesischen Regierung auf dem tibetischen Plateau verwiesen hatte, mit einem Ja. Sie sehe „ein Wurmloch einer Möglichkeit“. Spannend sicherlich auch, wie sie anhand der Unruhen 2008 zeigte, dass sich die meisten Aufstände - wohl auch durch Überwachung und Repressionen - außerhalb des „Autonomen Gebiets Tibet“ abspielten. Mit Karten zeichnete sie ein Bild eines größeren tibetischen Kulturraums, der über das hinaus geht, was man üblicherweise, so es zu sehen ist, als Tibet auf einer Karte findet. Liegt Bozen an der „Butter- und Olivenöl-Grenze“, wie es Moderator des Dialogs Francesco Palermo später informell formulierte, so findet sich am Rande des Plateaus eine Grenze zwischen Grüntee und gesalzenem Yakmilch-Tee, hinter der teils nomadische Kulturen leben, die mehr untereinander als mit den meisten Han-Chinesen gemein haben. Außerdem führe allein die Proportion dieses tibetischen Kulturraums dazu, dass Tibet notwendigerweise anders verwaltet werden müsse als andere Gebiete Chinas.

    Im Vortrag überraschte die Wissenschaftlerin auch mit einem Unterschied in der Verwaltung des sogenannten „Autonomen Gebiets Tibet“ im Vergleich zu anderen Regionen Chinas, was auch bei den versammelten Wissenschaftler:innen für Überraschung sorgte. Im Gegensatz zum restlichen Staatsgebiet ist das Machtverhältnis an den mehrheitlich doppelt besetzten Regierungsposten ein umgekehrtes: Hat im restlichen Staatsgebiet ein Regierungsbeamter die höhere Autorität als ein ihm zur Seite gestellter Vertreter der kommunistischen Partei, so ist dies in Tibet umgekehrt. Wir hatten das persönliche und berufliche Glück mit Tashi Rabgey ausführlich sprechen zu dürfen.

  • Foto: SALTO
  • SALTO: Frau Rabgey, heute wurde innerhalb akademischer Kreise gesprochen. Welchen Effekt aber können diese Überlegungen in der weiteren Gesellschaft haben, und wie erreichen Informationen wie diese, Tibeter im Exil und in Tibet?

    Tashi Rabgey: Die Konferenzen und Gespräche über welche ich heute einen generellen Überblick gegeben habe, sind nicht etwas, wovon die Masse der Bevölkerung leicht erfährt. Auf der anderen Seite ist es bei einer Gemeinschaft, die so klein ist, wie die tibetische - außerhalb Tibets leben etwa 150.000 Personen, innerhalb etwa sechs, sieben Millionen - durchaus möglich, dass sich Bewusstsein für diese Themen verbreitet. Für Tibeter ist es eine Möglichkeit, Hoffnung zu schöpfen und man lernt, dass es für Tibet Möglichkeiten gibt, die vielleicht nicht offensichtlich sind.

    Die Wirkung dieser Überlegungen ist, dass Leute beginnen zu verstehen, dass es nicht un-möglich ist, diese Barriere, die Grenze eines autoritären Staates zu überwinden. Das ist es, was wir tun: Wir schaffen kleine Löcher. Einige in der Tibet-Bewegung haben das Gefühl, dass die verfolgten Strategien zu nichts geführt haben - nicht alle, aber einige. Es gibt das Gefühl, dass viele Dinge gescheitert sind, weil etwa Gespräche mit der chinesischen Regierung abgebrochen wurden.

    Aber, auf anderen Ebene, normalisieren diese Gespräche Vorstellungen von Dingen, die wir lange nicht hatten. Eine davon ist, dass Stimmen von innerhalb wieder Gehör finden. Davon ist lange Zeit nichts nach außen gedrungen, außer es war ausgesprochen extrem, wie eine Selbstverbrennung oder ein Aufstand. Abgesehen davon, konnten wir nicht sehen, wie die Tibeterinnen und Tibeter innerhalb Tibets sich fühlen, was die Richtlinien unserer Arbeit beeinflusst. Die Menschen in Tibet fühlen sich nach wie vor sehr stark als Tibeter, was, als ich anfing nach Tibet zu reisen, noch unklar war. Es hat lange gedauert, bis ein Bewusstsein dafür entstanden ist, wie stark ausgeprägt die politische, tibetische Identität ist. Unsere Arbeit hilft, das alles zu normalisieren, dass Stimmen aus Tibet Gehör finden und wir über Themen wie Autonomie oder Selbstverwaltung reden können. Lange nahm man an, dass das unter den autoritären Umständen Chinas unmöglich sei. Es gibt Wege, die gerade durch den akademischen Diskurs, innovativ und produktiv sein können.

     

    Was selbst wohl informierte Teilnehmer an der heutigen Tagung überrascht hat, war der Umstand, dass die sogenannte „Autonome Region Tibet“ - nur ein Teil des historischen Tibets und des tibetischen Kulturraums - anders regiert wird als die restlichen Regionen Chinas. Können Sie diesen Unterschied noch einmal kurz darlegen und uns Ihre Einschätzung geben, ob dieser Unterschied eine einfachere oder schwierigere Ausgangslage für eine mögliche echte Autonomie in der Region darstellt? 

     

    Vielen Dank, dass Sie unterstreichen, dass das sogenannte Autonome System nur eine Farce ist. Es ist nicht wirklich autonom und jeder weiß das. Es zeigt uns aber einen territorialen Raum, der deutlich anders regiert wird. Das möchte ich unterstreichen, nicht ob das eine gute oder schlechte Sache ist. Dazu kann man verschiedener Meinung sein. Aber der Umstand, dass dieser administrative Raum einem wirtschaftlich-ökonomischen Raum entspricht, der gleichzeitig ein eigener Kulturraum ist, das spürt man sehr. Überwiegend wird auf Tibetisch gesungen, aber gehen wir davon aus, dass es ein populäres Lied auf Chinesisch gibt. Es ist dort ein anderes Lied, als wenn man das tibetische Plateau verlässt. Tibeter haben ihren eigenen Raum entwickelt, der, wie Sie sagen, klar in Verbindung zum historischen Tibet steht, wie es vor der Zwangsannexion Tibets zum neuen Staat China existierte.

    Erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts steht dieses Gebiet unter chinesischer Herrschaft. Davor gab es für Jahrtausende keine direkten Beziehungen zu China. Seit Beginn dieser Beziehungen wurde Tibet anders regiert, am deutlichsten zeigt sich das durch die Institutionen, welche an der Spitze stehen. Tibet wird durch ein Parteiorgan regiert, das nirgends außerhalb Tibets eine Rolle spielt. Dieses anachronistische Organ ist ein Überbleibsel aus der Kriegszeit, das heute noch Tibet regiert. Dass es innerhalb Tibets einen anderen Staats-Apparat als im Rest Chinas gibt zeigt, dass es nach wie vor ein intaktes Territorium ist, welches in gewisser Weise getrennt von China existiert.

  • Unruhen von 2008: In der Karte als rote Punkte markiert, zeigt sich, dass die Aufstände gegen den chinesischen Staatsapparat vor allem außerhalb des Autonomen Gebiets Tibet im tibetischen Hochplateau gehäuft vorkamen. Foto: SALTO
  • Sehen Sie sich, als jemand der für eine Autonomie Tibets wirbt, auch mit Widerstand von Tibetern im Exil und in der Region konfrontiert, für welche nur „Freiheit für Tibet“ und eine Staatenlösung in Frage kommt? Gibt es da Reibung oder gilt Autonomie als echte Alternative?

     

    Zuerst muss ich festhalten, dass meine Arbeit, die ich heute beschrieben habe, sich in der akademischen Welt abspielt. Ich möchte unterstreichen, dass ich mich darauf fokussiere, zu beschreiben, welches die faktischen, politischen Gegebenheiten sind. In diesem Sinne schreibe ich nicht vor, dass eine Lösung so oder auch anders auszusehen hätte. Natürlich entscheiden wir uns dafür, diese oder jene Arbeit zu machen und hoffen, dass es zu etwas führt. Als jemand der im Westen lebt, ist es mir wichtig, dass die Entscheidung bei Tibetern im Land liegt, den Pfad, den sie einschlagen wollen zu erarbeiten und zu gestalten. Natürlich ist das sehr schwierig unter autoritärer Herrschaft, weswegen das ein sehr komplexer Dialog ist. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass meine Arbeit nicht eine Vorstellung davon vermitteln soll, was Tibet sein sollte. Es geht darum, diese Gespräche zu normalisieren, damit wir von den generellen Annahmen wegkommen, dass diese zum einen unmöglich und zum anderen zu riskant wären. Stärker ist dabei die Annahme der Unmöglichkeit. Unsere Arbeit beweist, dass es dafür Gesprächspartner gibt und einen Hunger für besseres Verständnis und bessere Entscheidungen. Deswegen sind wir immer wieder von jenen - sowohl Tibetern, als auch Chinesen - beeindruckt, die nach Alternativen suchen.

    Die üblichen Kategorien und die übliche Sprache, die dabei angewandt werden, wie Minderheitenrechte oder auch ein Multikulturalismus - dem sich China letzthin verschrieben hat - spielt den Tibetern, mit den Problemen, mit welchen sie sich in Tibet konfrontiert sehen, dabei nicht in die Karten.

     

    Inwiefern?

     

    Es ist wichtig, sich Regionen wie Südtirol, das Baskenland, Quebec oder Schottland anzusehen, wo es verschiedene politische Experimente gegeben hat. Wie sind diese - zum besseren oder schlechteren – verlaufen? Wenn wir durch die Linse der Minderheitenrechte blicken, dann ist die Lösung fast immer „affirmative Action“, also eine bevorzugte Behandlung. Das sorgt, ironischerweise, da sich Tibeter bereits jetzt enteignet fühlen, für Neid und Missgunst. Der Eindruck der dabei entsteht, ist, dass man sich etwa dankbar fühlen sollte, wenn die Zugangshürde zur höheren Bildung gesenkt wird. Zu dieser Vorzugsbehandlung führen Minderheitenrechte fast immer. Das ist aber ein gänzlich anderes Problem als jenes, mit dem die Tibeter konfrontiert sind. Sie sollten sich nicht dankbar fühlen, Schulen besuchen zu dürfen, die sie nicht mitgestaltet haben, in einer Sprache, welche sie sich nicht ausgesucht haben. Das Problem ist ein grundlegenderes. Wer darf diese Entscheidungen treffen? Wir versuchen einen Weg zu finden, der uns dorthin führt.

  • Francesco Palermo und Tashi Rabgey: Für die Wissenschaftlerin von der Elliott School of Law ist Francesco Palermo eine Inspiration, welche sie mit großer Freude persönlich kennenlernen durfte. Foto: SALTO
  • Um einen Moment bei der Bildung zu bleiben: Auf welchen Wegen werden die tibetische Sprache und Kultur lebendig gehalten, angesichts eines Unterrichts der zwangsweise auf Chinesisch stattfindet?

     

    Die Änderungen im Unterricht, die man im Tibet sehen kann, sind nicht zum Guten. Es ist okay, sich dagegen einzusetzen. Es ist aber auch keine Verbannung der tibetischen Sprache, sondern ein Zwang, auf Chinesisch zu unterrichten. Was internationale Sichtbarkeit erhält, ist die Konsolidierung dieser Schulen: Kinder besuchen Internate, wenn sie noch sehr jung sind. Das ist neu. Es gibt natürlich verschiedene Modelle für den Spracherwerb, aber der Übergang zu einer stark mehrheitlichen Unterrichtsform findet in chinesischer Sprache statt, wo Tibetisch nur mehr Zweitsprache ist. Das ist das Gegenteil dazu, wie es zuvor war, mit Unterricht in der Muttersprache und Chinesisch als Zweitsprache ist. Die Wissenschaft zeigt uns, dass sich so auch das Chinesisch der Schülerinnen und Schüler verbessern würde. Weil sie den Lehrer verstehen. Studien zeigen, dass das für Zweisprachigkeit ein Vorteil ist, da man dann nicht für etwa zwei Jahre orientierungslos ist. All das ist unglücklich und diese Konsolidierung der Schulen auf Chinesisch als Unterrichtssprache ist in Tibet seit 2008 in Kraft. Es ist nichts Neues, aber global verbreitet sich das Bewusstsein dafür allmählich.

    Wird Tibetisch aber auch auf andere Weisen, außerhalb der Schulen unterrichtet? Die Antwort lautet, absolut ja. Das entspricht dem Geist der Tibeter, der derzeit ausgesprochen stark ist. Ich bin mit dem Privileg gesegnet, dass ich das erleben durfte und habe erkannt, dass wir diese Initiativen fördern müssen, die meist nach der Schule stattfinden und sich auch an Personen richten, die nicht zur Schule gehen. Menschen versammeln sich in Lerngruppen, um besser Tibetisch lesen und schreiben zu lernen. Frauen im mittleren Alter kommen zusammen, um gemeinsam Texte zu lesen. Der Antrieb der dahinter steckt, ist bemerkenswert. Das ist nicht illegal, es erfordert aber viel Kraft. Für mich ist das ein Zeugnis für die Kraft der tibetischen Sprache. Es ist eine sehr alte und vom Chinesischen verschiedene Sprache. Das beginnt bei der Syntax: Ein chinesischer Satz ist in der Regel mit Subjekt - Verb - Objekt strukturiert, ein tibetischer mit Subjekt - Objekt - Verb und im Tibetischen kommt ein Adjektiv immer nach einem Nomen, im Chinesischen ist es umgekehrt. Wir haben ein Alphabet, mit welchem wir Sätze schreiben, wogegen das Chinesische mehrheitlich Ideogramme verwendet. Es braucht etwa 11.000 Zeichen, um eine Zeitung lesen zu können, im Tibetischen braucht man dagegen etwa eine Woche für 30 Zeichen und kann denn mit dem Lesen beginnen. Menschen nehmen war, dass eines von den beiden Systemen dem entspricht, was man von klein auf spricht, das andere nicht. Man muss sich strukturell dieser Sprache anpassen. Ich glaube, dass dieser Drang, Tibetisch zu lernen, dadurch ein instinktiver, mehr noch als ein politisch motivierter ist, was Sie vielleicht, als jemand der hier in Südtirol lebt, nachvollziehen können.

     

    Glauben Sie, die Versuche einer Assimilation, welche der Staat China anstrebt, wären erfolgreicher, wenn Sprache und Kultur der Tibeter denen Chinas ähnlicher wären? 

     

    Das ist eine interessante Frage. Ja, ich denke schon. Es ist aber auch wichtig, auf die vielen Unterschiede innerhalb der Chinesischen Sprache hinzuweisen. Der Jiddische Sprachwissenschaftler Max Weinreich soll gesagt haben: „A language is a dialect with an army and navy“, also „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“. Hat man genug Macht, kann man behaupten, etwas wäre eine Sprache, ansonsten ist es ein Dialekt. Es gibt viele chinesische Sprachen, die mehr oder weniger wechselseitig verstanden werden, die aber eine lange Geschichte bei den Schriftzeichen verbindet und die sich eine Syntax teilen. Alte Texte können einfacher gelesen werden, weil sie mehr der gesprochenen Sprache entsprechen. Tibeter können das nicht, sie haben die chinesische Schrift erst mit der Invasion in der Mitte des 20. Jahrhunderts gelernt. Alles war neu, Konfuzius war neu.

  • Gipfel in Oslo: Für Tashi Rabgey war das Treffen mit Chinesischen Regierungsvertretern (im Hintergrund zu sehen) ein Sprung ins kalte Wasser. Sie setzt sich aktiv für den Sino-Tibetischen-Dialog ein. Foto: SALTO
  • Sie bieten auch Perspektiven für die Zukunft an. Auf der einen Hand haben Sie eine gewisse Dringlichkeit veranschaulicht, da in China  jene Menschen sehr alt werden, die sich noch an ein China erinnern, das gänzlich anders war, während sich jüngere Chinesinnen und Chinesen selbst nicht an das Massaker von Tianmen erinnern. Auf der anderen Hand verweisen Sie auf die Machtkonzentration in China auf eine einzelne, letztendlich auch sterbliche Person. Denken Sie, die Zeit spielt den Tibetern dabei in die Hände oder arbeitet sie derzeit gegen sie?

     

    Geschichtliche Erinnerung ist kurz. Das führt zu einem Gefühl, dass die Zeit, in der sich Menschen an den Aufbau des gegenwärtigen Chinas erinnern, ausläuft. Xi Jinping ist ein Kind dieser Generation. Er erinnert sich vielleicht noch daran, wie chaotisch die Kulturrevolution und der große Sprung nach vorn waren. Letzterer war drei Jahre der unvorstellbaren Zerstörung. 33 Millionen Menschen sind gestorben, durch eine mensch-gemachte Hungerkatastrophe, während bestem Wetter. Das ist ein nachhallendes Trauma. Generationen, die später aufwuchsen, hängen oft sehr stark am Konzept des Nationalstaats China, wie er heute auf den Karten zu sehen ist. Diesen Menschen fehlt ein Zugang, um sich mit der Konstruiertheit aller Nationalstaaten zu befassen. Hier in Südtirol gibt es eine Gleichzeitigkeit verschiedener politischer und kultureller Realitäten. China ist größtenteils monokulturell und monolingual, auch wenn es Gebiete wie Xinjiang oder die Mongolei gibt, wo die Perspektive eine andere ist. Die Mehrheit bekommt das nie zu Gesicht, sie hat einen monolithischen Blickpunkt und da spüre ich eine gewisse Dringlichkeit, auf die Sie hindeuten.

    Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass das Gefühl einer tibetischen Identität innerhalb Tibets nie stärker war. Das rührt von vielen Faktoren, nicht zuletzt von Jahrzehnten der Unterdrückung. Der chinesische Staat und die Regierung sehen sich derzeit mit vielen Problemen und Krisen gleichzeitig konfrontiert. Wogegen die Tibeter sich ihrer selbst bewusst sind, und bereit sind, sich an zukünftige Gegebenheiten anzupassen, welche diese auch sein mögen. Ich denke, alles in allem, ist die Zeit auf Seiten der Tibeter. Das möchte ich klar festhalten.

     

    Können Sie sich einen schlechten „Deal“ bei einer möglichen Autonomie Tibets vorstellen? Wäre eine politische Realität denkbar, in der die Region auf sich allein gestellt wäre, während der chinesische Staat Tibet natürliche und ökonomische Ressourcen entzieht?

     

    Ich glaube leider ja. Ein autonomes Gebiet zu haben, ist nicht automatisch etwas Gutes. Ob eine mögliche Autonomie vorteilhaft für die Tibeter ist, hängt von den Bemühungen einer Menge von Menschen ab. Innerhalb eines autoritären Systems, wie es die Volksrepublik China ist, besteht die Gefahr einer solchen Dezentralisierung. Es braucht eine Million Schritte, um an ein bereits abgetrenntes Herrschaftsgebiet, die Zuständigkeiten etwa für Bildung, Nachhaltigkeit und den Erhalt von Kultur- und Naturgütern, wie auch über Sprache oder das Gesundheitswesen abzutreten. Das Gesundheitswesen ist wahnsinnig schlecht ausgeprägt, zum Teil wegen der geographischen Gegebenheiten und zum Teil, weil das Chinesische Zentrum für Krankheitskontrolle und –prävention seine Arbeit nicht sehr gut macht. Es werden viele Menschen im Stich gelassen und diese Lücken schließen zivile, tibetische Organisationen, welche zu den abgeschiedeneren Gemeinschaften vordringen. Derzeit werden diese Gruppierungen hauptsächlich von Seiten religiöser Institutionen finanziert, aber es müsste ein Weg gefunden werden, welcher den Zugang zu diesen Hilfen erleichtert.

    Es könnte also Entscheidungen geben, die etwa die Zuständigkeit für diesen Bereich, um den sich niemand im Staat China kümmern möchte, abgeben. Das führt zu weniger Unruhen und wäre vielleicht doch keine gute Autonomie. Es kommt auf die Führungskräfte der Tibeter an und es braucht einen offenen Dialog über geteilte Werte und Prinzipien innerhalb der Gesellschaft. Wie soll diese Gesellschaft aufgebaut werden? Diese Frage eröffnet eine weitere Dimension, die es zu berücksichtigen gilt, um zu einer guten Autonomie zu gelangen.

     

    Meine letzte Frage hat damit zu tun, was es bedeutet, eine Tibeterin oder ein Tibeter zu sein, und ließe sich damit sehr individuell beantworten. Sie haben auch den Eindruck geschildert, dass die tibetische Identität heute eine stärkere ist, als die von gestern. Ist diese Identität mehr oder weniger säkular?

     

    Es ist so dynamisch, dass ich sagen würde, die tibetische Identität wird mehr und weniger religiös zugleich. Es gibt Teile Tibets, welche den traditionellen Buddhismus für sich entdecken und es erstaunt mich, dass Menschen in ihren 30ern oder 40ern sich ernsthaft mit Buddhismus befassen. Es gibt auch eine unglaubliche Renaissance der nicht-religiösen tibetischen Kultur und Tibeter, welche sehr selektiv religiös sind. Daneben gibt es auch, vor allem unter Künstlern und Schriftstellern, Personen, die sehr kritisch gegenüber den religiösen Systemen sind. Das alles spielt sich gleichzeitig ab und ist ein Zeichen dafür, dass das alles von niemandem kontrolliert wird. Es passiert alles spontan und entwickelt sich, weswegen es wichtig ist, diese Punkte zu verbinden. Die Natur eines autoritären Staats ist es, dass er die Menschen in ihren Blasen hält. Pluralität bedeutet, diese Blasen zu verbinden und zu durchdringen. Meiner Erfahrung nach werden die Menschen in diesen Blasen mehr und mehr so, wie sie bereits sind und entweder sehr areligiös oder sehr zu charismatischen Formen der Religion hingezogen. Je mehr wir die Menschen zueinander in Verbindung bringen können, desto weniger urteilen sie übereinander. Aber selbst unter autoritären Bedingungen habe ich das Gefühl, dass die Tibeter semi-öffentliche Orte finden, an denen dieser Prozess stattfindet.