Kultur | Salto Weekend
„So wie Pharoah Sanders Saxophon spielt“
Foto: Ai Narapol
Eine vom Museion Art Club organisierte Participatory Residency hat den Sheffielder Spoken-Word-Artist, Lyriker und Hip-Hop Künstler Otis Mensah nach Bozen geführt. Neben einem Workshop, der gestern seinen Anfang genommen hat, steht heute, Samstag Abend „Museion Factory. Art & Food“ (Beginn 18 Uhr, Teilnahmegebühr 15 Euro, Anmeldung erforderlich) auf dem Programm. Bei Samowar, grünem Tee und vegetarischem Essen soll im Atelier Haus ein integrativer Raum geschaffen werden, in dem jede:r eingeladen ist das Wort zu ergreifen. Nächste Woche, am Dienstag folgt, als Abschluss der Residency „Museion Factory. Unboxing the Art“ (Beginn 19 Uhr) auf den Talferwiesen. Die Teilnehmer:innen stellen dann gemeinsam mit Otis Mensah das Resultat ihrer Arbeit vor.
Herr Mensah, in einem Interview von 2018, anlässlicher Ihrer Ernennung zum ersten Poet-in-Residence von Sheffield haben Sie festgestellt „Es haftet ein gewisse Idee von Elitismus an der Poesie“. Bessert sich dieser Umstand?
Otis Mensah: Ich denke, es wird besser. Poesie wird zugänglicher, oder die Poeten, die Werke schaffen, mit denen man einen Draht findet, werden leichter zugänglich. Durch das Internet können wir Poeten finden, mit denen wir uns identifizieren können. Wir finden die Künstler, welche uns ansprechen.
Der westliche Literatur-Kanon ist, besonders was den Schulunterricht anbelangt, prädominant männlich und weiß. Denken Sie, dass das über Repräsentanz hinaus ein sich selbst erhaltender Kreislauf ist, der dazu führt, dass weniger Menschen, zu denen dieses Bild nicht passt, von poetischen Ausdrucksformen angezogen fühlen?
Nein. Ich denke, es gibt Menschen, zu denen die Schablone Männlich-Weiß nicht passt, die seit Jahren unglaubliche Werke schaffen. Aber ihre Arbeit steht nicht im Rampenlicht, sie werden nicht in den Kanon des Mainstreams aufgenommen. Das schmälert aber nicht die Arbeit, die gemacht wird: Wenn man tiefer gräbt, stößt man auf diese inspirierenden Werke. Man sollte sich nicht dem Kanon anbiedern und sich fragen, wie man dieses oder jenes darin einführen könnte, oder wie der Kanon zugänglicher gestaltet werden könnte. Oft geht es um die Frage, ob wir den Kanon ganz grundsätzlich überdenken müssen. Anstatt zu reformieren, was eingelassen wird, sollten wir die Gründe demontieren, aus denen wir auf einen Kanon Wert legen.
Die Unterhaltung, die wir führen müssen dreht sich um Ausgrenzung und Ressourcen, darum wer finanziert wird und wer nicht.
Wie könnte dieser Prozess von statten gehen? Hätten Sie eine Idee dafür?
Ich denke, es geht darum, denen, die aus diesem Kanon ausgeschlossen werden mehr Aufmerksamkeit zu geben: mehr Aufmerksamkeit für Poets of Colour und Nicht-Männer. Man sollte sich Gedanken zu ihren Werken machen, unabhängig von dem, welche Erwartungen der Kanon an sie stellt, statt sie den Standards anzupassen. Die Unterhaltung, die wir führen müssen dreht sich um Ausgrenzung und Ressourcen, darum wer finanziert wird und wer nicht.
Als jemand, dessen anfänglicher Zugang zur Poesie über Hip-Hop und Spoken Word, also mündliche Ausdrucksformen waren, welches ist der letzte Lyrikband, den Sie gekauft haben?
Lassen Sie mich mein Bücherregal ansehen. Ich habe mir zuletzt „More Fiya“ von Kayo Chingonyi gekauft, eine Sammlung einiger Schwarzer, Britischer Poeten. Es ist eine wunderbare Auswahl verschiedenster Dichter:innen, sowohl aus dem Norden, wie auch aus dem Süden. Davor hat mich „The Tradition“ von Jericho Brown in Beschlag genommen, das war 2020 mein liebster Gedichtband, ich war verliebt. Außerdem: Warsan Shire, die, für alle die noch nicht von ihr gehört haben, eine unglaubliche Poetin ist und gerade ihre erste Sammlung „Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head“ veröffentlicht hat, die fesselnd ist.
Im Hip-Hop lernen wir viel aus der Idee einer Cypher.
Welche Lehren aus dem Hip-Hop lassen sich auch außerhalb der Musik anwenden? Sie werden in Bozen einen Kreativ-Workshop abhalten, der Spoken Word Performances thematisiert.
Die Idee, Machtstrukturen zu dezentralisieren, etwa ist im Hip-Hop eingebettet, genau wie das Hinterfragen von Hierarchien oder die Notwendigkeit, dass Poeten zugehört wird. Man hat Teil an einer gemeinschaftlichen Kunsterfahrung und das überträgt sich auf die Haltung und die Art der Werke, die geschaffen werden. Wir haben bereits von Zugänglichkeit gesprochen. Wenn etwas unzugänglich erscheint, geht es darum, aufzuschlüsseln, welches der eigene Weg zu einem Gedicht war. Wenn es etwa abstrakter wirkt, dann geht es darum zu erklären, warum man eine Idee auf diese Art behandelt hat, statt den Text als einen Guss aus Gold zu behandeln, der nicht angefasst und der nur aus der Ferne betrachtet werden darf. Im Hip-Hop lernen wir viel aus der Idee einer Cypher (Gruppen-Freestyle im Kreis, die Person im Zentrum wechselt und hat das Wort, Anm. d. Red.). Daraus kann man viel über Machtstrukturen und das Teilen von Wissen und Kunst ableiten.
Häufig geht es in Ihren Texten um psychische Gesundheit: Etwa bei Ihrem Lockdown-Projekt #OtisMensahExists, oder bei dem offenen Umgang mit Ihrer eigenen Binge-Eating-Störung. Hilft Ihnen Poesie mit Problemen der psychischen Gesundheit?
Ich denke, meine Beziehung zur Kunst und zum Schreiben, lässt sich nicht von meinem Denken trennen. Ich verwende Kunst, um Emotionen, auch schwierige, zu verarbeiten und meine Angst zu beruhigen. Nicht immer in Form des Schaffens von Kunst, oft auch im Konsum. Jericho Brown spricht davon, dass seine Beziehung zu Gedichten wie jene zu Bäumen ist: Manchmal verstehen wir nicht, wofür wir Bäume brauchen, würde man aber alle Bäume entfernen, so würde uns das mit einem Mal auffallen und wäre öde.
Wer Kunst produziert, macht das nicht unbedingt um Einkommen zu generieren. Manchmal geht es darum, sich eine notwendige Auszeit zu nehmen, die der Kapitalismus nicht erlaubt.
Für wie schädlich halten Sie das Stereotyp eines „gequälten Künstlers“, dass oft gefeiert wird?
Ich denke, es ist sehr schädlich. Wir müssen darüber nuanciert nachdenken: Vielleicht haben einige Personen die Attribute eines gequälten Künstlers verkörpert, aber das ist nichts, was an und für sich zu feiern wäre. Was zu feiern wäre, ist die Hartnäckigkeit des Künstlers im Schaffungsprozess und des Überwindens von psychischen - oder finanziellen - Schwierigkeiten. Wir sollten Kunstwerke feiern, die aus diesen Umständen heraus entstehen, aber es ist reduktiv und einschränkend, das auf die Umstände, mit dem ein Künstler zu hadern hatte zu reduzieren. Ebenso müssen wir uns von der Fantasie eines hungernden Künstlers entfernen.
Wenn ein Künstler zu kämpfen hat, sei es mit schlechter psychischer Gesundheit oder Beziehungen, sozialen Phobien oder finanziellen Problemen, so müssen wir uns fragen, warum. Wie behandeln wir Künstler? Wird Kunst als gangbarer Weg im Kapitalismus angesehen? Wer Kunst produziert, macht das nicht unbedingt um Einkommen zu generieren. Manchmal geht es darum, sich eine notwendige Auszeit zu nehmen, die der Kapitalismus nicht erlaubt. Wenn wir aber innehalten, denken wir über unsere Emotionen und die Machtstrukturen nach, die auf uns einwirken. Dann passiert etwas, es findet ein Wandel statt. Kunst erlaubt das. Man könnte argumentieren, dass eine gewisse Vermarktung von Kunst in den Kapitalismus passt, aber nicht die Kunst von allen kann den Zweck erfüllen. Bei Künstlern, bei denen das nicht so ist, müssen wir uns die wichtige Arbeit, die sie leisten, bewusst machen, auch wenn sie sich außerhalb der Meritokratie bewegen.
So, wie Pharoah Sanders Saxophon spielt, ist die Art, auf die ich meine Worte kommunizieren möchte.
2020 haben Sie Ihren ersten Lyrikband „Safe Metamorphosis“ veröffentlicht, 2023 folgt der zweite. Wie unterscheidet sich das Feedback dazu von dem, das Sie zu Ihrer Musik erhalten?
Beides ist verwoben miteinander. Irgendwie wird das Eigenleben meiner Musik und meiner Gedicht-Sammlung zu einem. Die Performance mit Musik kann oft auditiv sehr dicht sein, sehr viel Information auf einmal enthalten. Manche nehmen das Buch als eine Art Souvenir mit, sagen mir, dass sie in ihrer Freizeit über einige der Ideen nachdenken wollen. Für mich ist es nicht wichtig, dass jedes einzelne Wort verstanden wird, wenn ich auftrete, mit Musik oder Gedichten. Es geht darum, dass die Person, die ein Gedicht oder ein Lied hört, eine emotionale Erfahrung hat. Bei einigen meiner Lieblingskünstler verstehe ich nicht immer, wovon sie sprechen, selbst wenn es mich zu Tränen rührt, mich emotional oder sogar politisch beeinflusst. Ich sehe die Art und Weise auf die wir Sprache konsumieren, gleich der, auf die wir Jazz konsumieren: So, wie Pharoah Sanders Saxophon spielt, ist die Art, auf die ich meine Worte kommunizieren möchte. Es geht nicht darum, jede Note einzelnen zu hören, man kann die Erfahrung einfach über sich herein schwappen lassen.
Als jemand, der auch mit der eigenen Dyslexie offen umgeht, welches ist der erste Entwurf eines Textes, außerhalb Ihres Kopfs? Nehmen Sie sich selbst auf oder schreiben Sie eine Notiz?
Ich fange oft mit einem Rhythmus an, einem Rhythmus ohne Worte. Das Gefühl ist da. Manche sprechen dabei von „Mumble Rap“ („Murmel“ oder „Nuschel“ Rap, Anm. d. Red.), auch wenn ich mit dem Begriff nicht einverstanden bin. Von Hip-Hop-Puristen wird das Genre häufig kritisiert, weil es nicht immer Sinn ergibt oder verständlich ist, weil es unzugänglich sei. Ich würde das Gegenteil argumentieren: Manchmal beginnt eine Sache in emotionaler, roher Form als Klang oder Geräusch. Das geht zurück auf unsere ersten Experimente als Menschen mit unserer Stimme, mit Ritualen, Gebeten und Gesang. Diese Emotion ist, was wichtig ist. Wenn das im Vordergrund steht, kommt das Gedicht nach. Für mich beginnt es oft mit dem Rhythmus, manchmal auch mit einem Wort, dessen Tiefe ich nicht völlig verstehe, aber das Gedicht entsteht von diesem Startpunkt aus.
Manchmal ist das Musik, manchmal die Natur. Wir sollten Poesie nicht mit Akademikern und Intellektuellen in Verbindung bringen.
Für wen ist Poesie?
Ich denke, Poesie ist für jeden. Ich denke nicht, dass jeder Poet für jeden ist, aber ich denke, da draußen gibt es Poesie für alle. Als ich, etwa mit 16, das erste Mal das Album „Things fall apart“ von The Roots gehört habe, fand sich darauf ein Gedicht von Ursula Rucker. Das verwandelte meine ganze Welt. Es zeigte mir, dass Poesie nicht immer sauber oder aufgeräumt sein musste. Es zeigte mir, dass etwas, das zuvor für mich unzugänglich, elitär und beschönigend war, in Beziehung stand zu meinen persönlichen Erfahrungen und mir etwas beibringen konnte über meine politische und soziale Realität, zu dem mir das Schulsystem keinen Zugang bieten konnte. Das war mein Tor zur Poesie, ich denke jeder kann sein eigenes finden. Manchmal ist das Musik, manchmal die Natur. Wir sollten Poesie nicht mit Akademikern und Intellektuellen in Verbindung bringen. Was wir aus dieser Poesie lernen, lässt sich auf die Poesie in anderen Dingen übertragen. Die Poesie mit der man einen Obstgarten aufzieht ist für mich das selbe Handwerk, das jemand anwendet, der ein Gedicht schreibt.
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