Bühne | Recherchestück

„Heilige Pflicht“

Sabine Ladurner, Viktoria Obermarzoner und Patrizia Pfeifer (von links nach rechts) melden sich zur Wehrpflicht zu Wort. Die Stück-Recherche „Über die Naia“ unter Joachim Goller ist dabei überraschend witzig.
Über die Naia, Dekadenz
Foto: Andreas Tauber
  • Es ist ein ernstes Thema, dessen ist man sich bewusst und macht dennoch Witze. Man sammelte Zeugenberichte, von Männern, die die Naia noch am eigenen Leib erfahren haben (im Gegensatz zu diesem Redakteur, dem Regisseur und selbstverständlich den Schauspielerinnen), verlas einigermaßen zweisprachige Broschüren und Online-Kommentarspalten, unter anderem jene einer „linksgrünversifften Hippieplattform“. Für das Stück, dem man zu „Born Slippy .NUXX“ von Born Slippy von Underworld (bekannt aus dem Kinoklassiker Trainspotting) als Einleitung ein echtes Power-Workout samt Flackerlicht vorangestellt hat, dankt die künstlerisch-organisatorische Leiterin Anna Heiss dann auch passenderweise dem Lichttechniker Werner Lanz. Die Naia-Berichte, des am Abend maßgeblich beteiligten Zeitzeugen, hätten bei Anna Heiss die Idee zu einem Stück über die Naia oder Leva Militare auf den Plan gerufen. Das Wort gab sie dann an die Stückautoren, Joachim Gottfried Goller (Konzeption und Regie), Armela Madreiter (Konzeption und Dramaturgie), sowie Emma Mulser (Assistenz für Regie und Drammaturgie) ab. Alle drei sind sie zu jung für die Naia, bringen also selbst keine Nostalgie an das Stück heran, wenngleich sie diese zuweilen nach stärkster ironischer Brechung auf die Bühne bringen.

  • Über die Naia: Schreibtischsoldaten, deren Naiazeit schon etwas länger her sein dürfte und auch solche aus D, bekämpfen sich unter dem Banner, das die einzige Bühnenkonstante im Stück ist. 18 Jahre ohne Naia. Foto: Andreas Tauber
  • Das Stück ist dabei als ein Schnellfeuer an Aussagefetzen und vollständigeren Berichten mit einigen Unterbrechungen und Abschweifungen gestaltet, ein klassischer Sprechüberfall, der das Publikum allein schon durch seine Geschwindigkeit bei Laune halten könnte. Immer wieder wird Aufschlussreiches mit Schockierendem, auf der Gegenseite aber auch mit Humor gebrochen. Eine der ersten Szenen des Stücks beschreibt dabei etwa verschiedene Kniffe, die gerade nördlich der Salurner Klause verwendet wurden, um sich der Musterung in Trient zu entziehen. Auch, dass es für viele eine Tragödie war, dennoch für tauglich - oder auch untauglich - erklärt zu werden, findet einen Raum im Stück.

    Man geht dabei ziemlich methodisch und kritisch mit dem Thema um, was das Stück für Nostalgiker gänzlich ungeeignet macht. Diese können sich in Form des einen oder anderen „Tastaturkriegers“, der im Stück überspitzt  kostümiert - aber im Wortlaut unverändert - auftreten kann, vertreten fühlen. Von Nationalismus bis Homophobie, von der Überbetonung der Männlichkeit und zweifelhaften Werten und Musterungskriterien, bis hin zur psychologischen Kriegsführung innerhalb der eigenen Reihen, lässt man keine Gelegenheit aus, die Institution und alles in ihrem Dunstkreis zu demystifizieren. In diesen Dunstkreis treten etwa auch Vertreter:innen der Süd-Tiroler Freiheit, die auf Band zitiert werden, dass kein „Süd Tiroler“ mehr für Italien Dienst an der Waffe leisten sollen müsse. Wäre diese „Mini-Naia“ dabei in Ordnung, wenn es sie statt als „sacro dovere“ (Wortlaut einer Broschüre) für eine „patria“ statt dessen als „heilige Pflicht“ an einem „Vaterland“ erfüllt würde?

  • Über die Naia: Viel Text und Inhalt in einem Stück, das keine Gefangenen nimmt. Da ist es legitim, zwischendurch, besonders für Zitate, einen Notenständer samt Mappe als Verbündeten ins Feld zu führen. Foto: Andreas Tauber

    Ganz nebenbei lernt meine Generation (Y) im Stück noch mächtig dazu. Nicht Pflichtbewusstsein, Aufopferung und Kammeradschaft, sondern etwa, was sich Unangenehmes hinter dem Begriff „nonnismo“ versteckt, und das auf durchwegs kurzweilige Art und Weise. Einziger Makel an dem Stück ist, dass es durch seine sprechflusshafte Wiedergabe der Recherche im letzten Drittel ein wenig ins Sketchhafte, stark Ironisierende abdriftet, was die Realität der Naia leicht ins Hintertreffen geraten lässt. Fast so, als wolle man dem Dekadenzpublikum dann doch nicht zu viel zumuten. Dafür war der Anfang beim Militär und der Musterung umso krasser und bildhafter gestaltet, trotz eher minimalistischer Ausstattung (Mirjam Falkensteiner). Am Ende fängt man sich dann wieder, nicht für den Ernst der Lage, sondern für lyrische Abschlussbilder zu Musik (wieder stilsicher, auch wenn es zwischendurch einen Abstecher mit Szenenapplaus zu einem deutlich schlechter gealterten Lied gab), mit Fragen aus dem Lautsprecher, die man mit nach Hause oder an die Bar nehmen kann. Etwa auch: Was haben Volksmusiker aus Kastelruth, der italienischen Naia zu verdanken? Zumindest auf diese Frage gibt das Stück garantiert Antwort.

  • Nächster Musterungstermin in der Brixner Dekadenz ist heute, Sonntagabend um 1800.

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△rtim post Mo., 16.10.2023 - 11:22

Viel Erfolg bei der (künstlerischen) Umsetzung. Auch, wenn ich nach wie glaube, die Wirklichkeit bleibt die beste Stückeschreiberin.
Es gab so vieles, das man wohl kaum am Schreibtisch erfinden kann. Rekruten aus Süditalien, die z.B. für ihren verspäteten Antritt in der Meraner Grundausbildungskaserne bestraft wurden, weil sie fälschlicherweise bereits in Salurn, Auer in Panik aus dem Zug stiegen. Sie glaubten sich durch die (mehrsprachigen) Schilder bereits im Ausland zu befinden. Zeugen Jehovas, welche die Bibel (u.a. Mt. 5,34) wörtlich nahmen oder Leute, die sich kahl schoren, Finger und sonstiges brachen und dafür ins Miltärgefängnis wanderten usf.
Und nicht zu vergessen die Suizide.
Es gab aber tatsächlich auch Leute, von Südtiroler Bergbauernhöfen, die vor dem Hintergrund der Härte und der gemachten Gewalterfahrungen, den Militärdienst sogar als sehr positive Auszeit empfanden und besonderen Einsatz zeigten.

Mo., 16.10.2023 - 11:22 Permalink
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Factum Est Mi., 18.10.2023 - 23:01

Antwort auf von △rtim post

Apropos Leute von den Bergbauernhöfen. Es kam unter anderm vor dass diese Jungen mit mehr Geld nach Hause kamen weil Sie den Lire Monatssold nicht ausgaben. Die Gründe dafür sind: Essen und Trinken als auch für Kleidung war von Seiten des Staates gesorgt. Ausgang war nur in Militärkleidung erlaubt und daher für so Manchen „beschämend“.

Mi., 18.10.2023 - 23:01 Permalink