Gesellschaft | Nachruf

Distanz zu den Mächtigen

Hugo Seyr war ein hartnäckiger Verteidiger der journalistischen Unabhängigkeit. Genau das wurde ihm am Ende zum Verhängnis. Die Erinnerung eines Arbeitskollegen.
Seyr, Hugo
Foto: Christine Helfer
Das Radio war seine Leidenschaft und er blieb ihm ein Berufsleben lang treu. Als Hugo Seyr Anfang der 60er Jahre im Funkhaus des Senders Bozen am Mazziniplatz in die Redaktion einstieg, profilierte er sich schon nach kurzer Zeit als umtriebiger Rundfunkreporter.
Schnelle Auffassung, präzise, fast im Staccato formulierte Fragen waren sein Markenzeichen. Fand er eine Antwort unbefriedigend, konnte er schon einmal nachfragen und hartnäckig nach des Pudels Kern forschen. Das war neu damals und erregte nicht nur Beifall, zu einer Zeit als Gefälligkeitsinterviews und vorauseilende Obrigkeits-Huldigungen an der Tagesordnung waren.
Unzertrennbar war er mit seinem Arbeitsgerät, dem um die Schulter gehängten „Nagra“ verbunden. Dieses schweizer Präzisionstonband hatte in Reporterkreisen Kult-Status, ähnlich einer Schweizer „Rolex“. Das Gerät wog 5 Kg, benötigte 12 grosse Rundbatterieen und kostete fast so viel wie ein italienischer FIAT-Kleinwagen. Wir hüteten es wie unseren Augapfel.
 

„Im Tal und auf der Höh, hört alles UKW“

 
Anfang der 60er Jahre hatte sich der Sender Bozen in Südtirol trotz aller Schwierigkeiten eine treue Stammhörerschaft erkämpft. Weniger mit seinen journalistischen Informationssendungen als mit volkstümlichen Wochensendungen und Serien, wie dem „Sender auf dem Dorfplatz“ , dem beliebten Wunschkonzert am Sonntag und dem Renner unter den volkstümlichen Sendungen „Aus Berg und Tal“ am Mittwochabend. In manchen Familie wurde der Abendrosenkranz am Mittwoch vorverlegt, um die Sendung nicht zu verpassen. 
Als 1960 nicht nur das neue Funkhaus am Mazziniplatz in Betrieb ging, sondern auch die  schwankungsanfällige Mittelwelle dem störungsfreien UKW Empfang Platz machte, war der Höhenflug des Senders Bozen kaum noch zu stoppen.
 
 
Schnelle Auffassung, präzise, fast im Staccato formulierte Fragen waren sein Markenzeichen.
Deutsche Konkurrenz im Äther gab es keine, denn Sender aus Österreich, aus der BRD und der DDR waren nur auf Mittelwelle, meist am Abend und stark gestört zu empfangen. „Im Tal und auf der Höh, hört alles UKW“, lautete der Werbespruch des Senders Bozen und als wöchentlich ein UKW-Radioapparat unter den Hörern verlost wurde, erreichten bald zehntausend Postkarten pro Woche den Sender.
 

Mazziniplatz ohne Deutschkenntnisse

 
Hugo Seyr verkündete den Gewinner.Sein eigentliches Anliegen war freilich nicht die erfolgversprechende Quote um jeden Preis. Ihm schwebte auch für Südtirol ein journalistischer Neustart und ein Ende der Nachkriegslethargie vor.
Die Rahmenbedingungen dazu waren alles andere als einladend. Die damals noch „walsche“ RAI litt unter erheblichen Geburtsschwierigkeiten. Zwar hatte die „amerikanische“ Verwaltung nach der Befreiung im Mai 1945 die Aufnahme von deutschen Sendungen und Nachrichten im Sender Bozen verordnet, doch die Durchführung lag in italienischer Hand. Nicht selten waren in der Folge noch Verantwortliche des faschistischen RAI-Vorläufers EIAR am Drücker.
Als Hugo Seyr zum Sender Bozen kam, war der Direktor (De Strobel) ein Italiener ohne Deutschkenntnisse. Ebenso der Chefredakteur (Tullio Armani): ein Italiener ohne Deutschkenntnisse. Alle Radiotechniker Italiener – ohne Deutschkenntnisse.
 
 
Die Nachrichtenquellen, die dem Sender zur Verfügung standen, beschränkten sich auf zwei italienische Agenturen ( ANSA und Italia). Die italienischen RAI-Nachrichten von 9 Uhr dienten als Tagesrichtlinien für die Innenpolitik. Für das Lokalgeschehen lieferte die italienische Redaktion die Durchschläge ihrer Nachrichten (Schwerpunkte: Bozen, Leifers Meran). In ganz Südtirol gab es nur zwei deutsche Korrespondenten aus Brixen und aus Sterzing.
Das alles betreut von einem Beobachter aus dem Regierungskommissariat. Für zusätzliches deutsch-italienische Misstrauen und für Verunsicherung sorgten die bis Ende der 60er Jahre anhaltenden landesweiten Sprengstoffanschläge. Journalistische Hinterfragung und Recherche waren nicht erwünscht. Es blieb der Umweg über journalistische Nischen.
 

Der Olympia-Reporter

 
Schon früh erkannte Hugo Seyr das Potential der Sportberichterstattung. 
Als der „angelo biondo“ (Klaus Dibiasi) und dann die Schifahrer Carletto Senoner und Gustav „Gustavo“ Thöni die Herzen des italienischen Sportpublikums eroberten, gewannen auch die Südtiroler Sportberichterstatter an Ansehen. 
Hugo Seyr wurde in den Pool der nationalen Olympia-Reporter aufgenommen, als einziger Südtiroler schaffte er die Prüfung zum „radiocronista“ und hatte damit die Befähigung für die Berichterstattung bei olympischen Spielen. Er erlebte den Terroranschlag bei den Olympischen Sommerspielen in München, berichtete aus Sarajewo bevor Jugoslawien explodierte und war in Moskau, als ein Grossteil der  westlichen Staaten wegen der Afganistan-Krise den US-Boykott gegen die Sowjetunion befolgten.
Sein prominentester Schüler war Thomas Gottschalk. Zu einem Praktikum im Sender Bozen wurde Gottschalk nicht zugelassen. 
Sportliche Grossereignisse erleichterten ihm auch die Kontaktaufnahme mit benachbarten deutschen Sendeanstalten, an der ihm viel lag. Für Studio Tirol lieferte er Radioberichte, den bayrischen Rundfunk gewann er für die Betreuung des Senders Bozen während der Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko mit Berichten über Olympiasieger Klaus Dibiasi.
Es war kein Zufall, dass er nach seinen Abstechern in sportliche Niederungen plötzlich akademischen Nachholbedarf verspürte, sich historischen Themen widmete und journalistische Fortbildung in der Cusanus-Akademie in Brixen anbot. Sein prominentester Schüler: Der damals katholische Zögling Thomas Gottschalk. Zu einem Praktikum im Sender Bozen wurde Gottschalk nicht zugelassen. 
 

Die zweite Chance

 
Kennzeichnend für Hugo Seyr war sein Bemühen um Distanz zu den Mächtigen. Er scheute die Nähe zur Politik und setzte, wenns dann doch drauf ankam, aufs falsche Pferd. 
Als die Autonomie nach dem Paket auch beim Sender Bozen Fuss fasste, ging es 1977 um die  Bestellung des ersten deutschen Chefredakteurs. Doch wie abzusehen, zog er mit seinem Fürsprecher, dem ehemaligen Paket-Gegner Peter Brugger den Kürzeren gegenüber der Magnago Fraktion um Hansjörg Kucera.    Eine Niederlage, die schmerzte, doch Hugo Seyr erhielt eine zweite Chance.
Nach dem für alle überraschenden, wenn auch nur vorübergehenden Ausstieg von Hansjörg Kucera aus der Redaktion, übernahm Hugo Seyr 1990 für drei Jahre das Ruder. Das Ausmass der Probleme, die sich angehäuft hatten, war enorm. Das Redaktionskonzept, das er seiner Mannschaft unterbreitete, dementsprechend anspruchsvoll.
 
 
Im Radio mussten die Morgenschiene und das Mittagsmagazin erneuert werden. Im Fernsehen stand die seit Jahren verzögerte „Übersiedlung“ der Tagesschau von Rom nach Bozen an.
Die Zeiten der TV-Monopolstellung des Senders Bozen waren längst vorbei und die „Tagesschau“ sah als Mischprodukt zweier Redaktionen gegenüber den inzwischen verfügbaren öffentlich-rechtlichen Nachrichten von ORF und ARD altbacken, dilettantisch und blass aus. Der Umbau erfolgte trotz Gegenwind aus der römischen Tagesschau-Redaktion  im Rekordtempo.
Allzuviele Entscheidungsträger fanden sein Vorgehend zu impulsiv, zu polarisierend und zu undiplomatisch. Für die Zentraldirektion in Rom war er der Bozner „Rompiscatole“, der Unmögliches verlangte.
Deutsche TV-Trainer der ARD übernahmen das „Coaching“ der Bozner Fernsehmoderatoren. Das Studio wurde nach neuesten Gesichtspunkten gestaltet. Die Kennungen ebenso. Als die „neue“ Tagesschau am 15. April 1992 erstmals auf Sendung ging, begann eine neue Ära im lokalen Fernsehen.
Hugo Seyr hatte sich als radikaler Modernisierer bewährt, doch der Erfolg hatte für ihn auch eine Kehrseite. Allzuviele Entscheidungsträger fanden sein Vorgehend zu impulsiv, zu polarisierend und zu undiplomatisch. Für die Zentraldirektion in Rom war er der Bozner „Rompiscatole“, der Unmögliches verlangte. Für den Koordinator in Bozen ein hartnäckiger Verteidiger der journalistischen Unabhängigkeit der Redaktion und aufgrund dieser Unabhängigkeit verbat er sich  kategorisch auch jegliche „Einmischung“ der Landespolitik in die redaktionelle Arbeit.
Die Konfliktlinien waren damit vorgegeben und als der Rückhalt in der eigenen Redaktion zu bröckeln begann, war er als Chefredakteur nicht mehr zu halten.
Hugo Seyr beendete seine journalistische Laufbahn mit dem, was ihm persönlich wichtig war. Der Beschäftigung mit dem Theater. Dem breiten Publikum wird er auch als kompetenter Theaterkritiker in Erinnerung bleiben.