Schutzimpfung gegen Gewalt

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Femizide sind keine Randerscheinung, sondern eine erschütternde Realität. In Italien werden jährlich im Durchschnitt circa 120 Frauen ermordet. Hinter vielen Taten steht eine lange Geschichte von Gewalt, die oft zu spät erkannt wird.
Um das Bewusstsein für diese Dynamiken zu schärfen und Werkzeuge zur Prävention bereitzustellen, wird heute in Bozen im NOI TechPark der neue Podcast „Ci vogliamo vive. Prevenire i femminicidi“ präsentiert. Er ist Teil des Projekts „Eine vernetzte Gemeinschaft gegen geschlechtsspezifische Gewalt“, das von der Gemeinde Bozen in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Chancengleichheit umgesetzt wurde.
„Das Ziel ist es aufzurütteln.“
Konzipiert und erzählt von Christine Clignon und Anita Rossi will die sechsteilige Podcastserie das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Gewalt schärfen und konkrete Ansätze für Prävention aufzeigen. „Das Ziel ist es aufzurütteln, ein Bewusstsein in der Gesellschaft zu schaffen und das durch ein Instrument“, erklärt Rossi. Von Anfang an sei die Idee gewesen, ein Werkzeug zu schaffen, das nicht nur im privaten Umfeld gehört wird, sondern auch in Schulen, Jugendprojekten oder in der Aus- und Weiterbildung von Polizei, Justiz, Sanitätspersonal und Sozialdiensten zum Einsatz kommen kann.
„Uns geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Prävention.“
Im Zentrum des Podcasts stehen reale Fälle aus Südtirol und dem Trentino. „Wir haben das betrachtet, was vor dem Femizid passiert ist, aber auch was danach geschah, um zu sehen: Wo sind Fehler passiert? Damit wir aus diesen Fehlern lernen können.“ Innerhalb der Podcastreihe erzählen unter anderem zwei Frauen, die einen Mordversuch überlebt haben, von ihren Erfahrungen.
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Damit setzen die Macherinnen bewusst einen Kontrapunkt zu True-Crime-Formaten, die Gewalt oftmals als Spektakel inszenieren. „Es gibt viele Podcasts, die sich mit dem Thema befassen, aber oftmals mit einem sensationsgeilen Ansatz. Uns geht es nicht um Unterhaltung, sondern um Prävention“, sagt Rossi. Zugrunde liege vielmehr ein wissenschaftlicher Ansatz, der so genannte Femicide Reduce, welcher von den Vereinten Nationen (UN) empfohlen wird, und die Analyse der Frauennmorde zum Ziel habe.
Finanziert wurde die Podcast-Serie mit Geldern vom Ministerium für Chancengleichheit vom Netzwerk der Stadt Bozen gegen Gewalt an Frauen. Rossi und ihr Team haben sich bewusst für die italienische Sprache entschieden. „Wir erwarten uns so ein größeres Publikum. Je mehr wir erreichen, desto lieber ist uns das.“ Langfristig soll der Podcast nicht nur lokale, sondern auch nationale Debatten anstoßen.
„Meist gibt es eine Entwicklung, eine Gewaltspirale davor.“
Prävention zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Serie. Gewalt an Frauen geschieht nicht plötzlich, sondern folgt fast immer einer Eskalationsspirale. „Es ist kaum der Fall, dass irgendjemand aus seiner Ecke hüpft und eine Frau umbringt. Meist gibt es eine Entwicklung, eine Gewaltspirale davor“. Diese Spirale rechtzeitig zu erkennen und zu unterbrechen, sei die entscheidende Aufgabe.
Ein Problem, das Rossi immer wieder anspricht, ist die fehlende statistische Erfassung in Italien. „Das Innenministerium zählt nur Tötungsdelikte und unterscheidet zwischen Männern und Frauen. Aber es sagt nicht wie viele der Delikte an Frauen Femizide waren“. Verlässliche Daten gebe es fast nur von NGOs oder Frauenhäusern, welche einzeln dokumentiert werden. „Das allein zeigt schon, dass der politische Wille nicht wirklich da ist, um eine große, gewaltige Änderung anzukurbeln“. Zudem fehle hier eine Verbindung aller Daten, welche diese verlässlich zusammenfasst und einsehen lässt.
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Drei Handlungsfelder
Aus Gesprächen mit über 30 Expertinnen und Experten haben sich drei große Handlungsfelder herauskristallisiert. Diese laufen alle gleichzeitig und seien nicht hierarchisch zu sehen: Früherziehung, Zusammenarbeit der Institutionen, verpflichtende Fortbildungen.
Früherziehung bedeutet, dass bereits im Kindergarten Kinder lernen sollen, Gefühle in Worte zu fassen, statt sie in Aggression umzuwandeln. „Kinder sollen lernen, mit ihrem Körper und ihrer Gefühlswelt gesund umzugehen“, so Rossi. Gerade in Südtirol gebe es zwar einzelne Projekte, doch sie seien nicht flächendeckend und damit vom Zufall abhängig. Frühzeitige Bildung sei eine Art Schutzimpfung gegen Gewalt, die sonst über Generationen weitergegeben werde.
Ebenso entscheidend sei die Zusammenarbeit der Institutionen. Frauen, die Gewalt erfahren, sind nicht unsichtbar - sie gehen zum Arzt, bringen Kinder in den Kindergarten oder landen in der Notaufnahme. Doch zu oft bleiben diese Kontakte folgenlos. „Wenn eine Frau dreimal in der Notaufnahme landet, darf diese Information nicht einfach liegenbleiben“, warnt Rossi. Der Austausch zwischen den Diensten müsse enger werden, denn nur ein vernetztes System könne Frauen rechtzeitig auffangen.
„Solange sie nicht verpflichtend sind, nehmen nur jene teil, die Lust dazu haben.“
Der dritte Bereich betrifft verpflichtende Fortbildungen. Zwar gibt es heute zahlreiche Angebote, doch meist sind sie freiwillig. „Solange sie nicht verpflichtend sind, nehmen nur jene teil, die Lust dazu haben und das sind nicht immer die, die es am dringendsten bräuchten“.
Besonders kritisch betrachtet Rossi die Rolle der Medien, deren Berichterstattung oft sensationsgierig oder voyeuristisch sei. Auch hier brauche es mehr Sensibilität, damit Sprache und Bilder nicht erneut Gewalt reproduzieren.
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Für Rossi, die seit 30 Jahren journalistisch arbeitet, seit 2020 auch Podcasterin ist und auf salto.bz den Podcast „Wenden“ betreute, ist „Ci vogliamo vive“ mehr als ein Medienprojekt. „Unser Ansatz ist Prävention, und zwar so, dass die Geschichten von Frauen als Beispiele dienen, um daraus zu lernen. Damit solche Taten nicht mehr passieren“. Der Titel, ein Slogan aus der Frauenbewegung, sei bewusst gewählt, um auf Anhieb klarzumachen, worum es gehen soll. Nämlich den Blickpunkt der Frauen und nicht der Täter.
Der Podcast verstehe sich zugleich als Dank an alle Frauen, die den Mut hatten, ihre Erfahrungen zu teilen. Und er richtet sich an alle, die selbst betroffen sind: Wer männliche Gewalt erfährt, kann anonym und kostenfrei die nationale Notrufnummer gegen Gewalt und Stalking 1522 anrufen oder sich an ein Frauenzentrum wenden. Weitere Links und Informationen sind in den einzelnen Episoden des Podcasts zu finden.
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